15 02 2019
mit Simon Camatta, Florian Walter, Karl F. Degenhardt, Jan Klare, St. Kirchhoff und Flavio Zanuttini
Aus der Jazzlandschaft nicht mehr wegzudenken ist die Großformation The Dorf mit ihrem „Dorfvorsteher“ Jan Klare. „Das Dorf“ ist eine sich stets erneuernde und erweiternden Gemeinschaft. Daneben „wuchert“ das Dorf aber auch an seinen Rändern, fächert sich auf, streckt seine Fühler aus, musikalisch natürlich. So entstehen immer aufs Neue kleine Formationen, die aus der großen Dorfgemeinschaft entspringen und sich aus ihr lösen.
Als Off-spring entstand auch das eigene Umland-Label, das die diversen Kleinformationen im Blick hat. Einige der Formationen stellten sich an diesem Abend im Bunker Ulmenwall dem hiesigen Publikum vor.
Charaktertypen musikalisch begriffen
Zu Beginn hatten die Zuhörer es mit den musikalischen Konzeptionen von Super Jazz Sandwich zu tun. Hinter dieser Dreierformation verbergen sich der sonst in Italien beheimatete Flavio Zanuttini (Trumpet), der extra aus Italien angereist war, der Westfalen-Jazzpreisträger Florian Walter (Sax) und Simon Camatta (Drums). Diese Drei hatten schon mit ihrem Monk-Projekt für einige Furore gesorgt, auch und gerade, weil sie sich auf die differenzierte Verfächerung der freien und improvisierten Musik verstehen.
Das Konzept des Enneagramms, eines neunstufigen Modells zur Persönlichkeitsbeschreibung und -entwicklung – sehr umstritten, wie Florian Walter gleich zu Konzertbeginn anmerkte – stand im Zentrum des Auftritts. Herauskam eine Vielzahl unterschiedlicher musikalischer Ansätze, natürlich, so Florian Walter, stets im Kern von Thema-Improvisation-Thema bestimmt.
Zu Beginn war der Mann mit den Sticks, den Fellen und Blechen gefragt, der redundante Rhythmusmuster vorgab. Unterbrochen wurden diese durch gelegentliche Aufschreie der beiden Bläser. Doch dabei beließen es Florian Walter und Flavio Zanuttini nicht. Sie feuerten sich gegenseitig an, fordert einander heraus.
Im Laufe des Abends stellten die drei Musiker eine Vielzahl von Charakteren vor. Dabei oblag es jedem drei Kompositionen zu präsentieren. Schreie und Urschreie wechselten sich mit dem tieftönigen Baritonsaxofon ab, dem Florian Walter bisweilen kurzfristiges Leben einhauchte. Entfesselung und Losgelöstheit demonstrierten die Musiker. Das schloss auch das Drumming ein. „Tippelndes Schlagwerk“ vernahm man. Überbordend waren die Klangwellen der Bläser. Schiffssirenen trafen auf Trompetengeröchel. Ostinato vereinte sich mit Marschrhythmus. In Fragmenten vermeinte man in die Welten von Weill und Eisler einzutauchen.
Es gab nicht nur ein Spiel mit „Windmaschinen“ und Schlagwerk zu hören, sondern auch ein Kartenspiel determinierte den musikalischen Verlauf des „Enthusiasten“, einer der Charaktere, die vorgestellt wurden. Dieser, so Florian Walter, sei sehr zielorientiert und impulsiv. Zugleich habe er Angst, etwas zu verpassen.
Geschmetter auf dem Tom und ein selektiver „Paukenschlag“. Und nach einem „gefühlten Wimpernschlag“ war dann das Stück auch bereits zu Ende. Die „Windmaschinen“ hatten erzählt, was sie erzählen wollten. Anschließend begegneten die Zuhörer dem „Individualisten“, lauschten den „Gebläserohren“. „Nebelhörner“ gesellten sich zum Tschtsch der vibrierenden Bleche. In manchen Passagen wurden Erinnerungen an dörfliche Blaskapellen und die Bandas von La Valletta geweckt. Fellgeschnarre traf auf melancholische „Langwellen“ der beiden Bläser. Urbanes Chaos ließen die beiden im Verlauf auch entstehen. Der alltägliche Wahnsinn im urbanen Dschungel schien gegenwärtig zu sein.
Und dann gab es auch noch Anlehnungen an Coltrane und Coleman zu erleben. Das mischte sich mit Rabatz. Dabei schien Free Jazz sehr nahe und auch doch nicht. Mit „The Vain“ beschloss das Trio seine musikalische Exkursion, um dann für einen szenischen Wechsel Raum zu geben. Übrigens, wer sich noch an The Can erinnern kann, der konnte hier und da in Super Jazz Sandwich durchaus Parallelen entdecken.
Meat Karaoke Quality Time
Elektronische Windmaschine, kurz EWI genannt und bereits in den 1960er und 1970er Jahren erstmals genutzt, standen ebenso wie ein sogenanntes Drumspad im Mittelpunkt des nachfolgenden Programms. Gefragt nach dem Name der Band, meinte Jan Klare ein wenig lakonisch (?), dass sich das doch selbsterklärend auflöse. Zu hören waren Florian Walter und Jan Klare an der EWI sowie Karl F. Degenhardt am E-Drums
Alle drei Musiker sind Zentralfiguren der westfälischen Musikszene und darüber hinaus. Sie verschmelzen dabei durchaus Geräuschmusik mit freier Improvisation und Neuer Musik. Und hier und da dachte der eine oder andere beim Lauschen der elektronischen Klangwelten auch an „Tubular Bells“ - für wenige Augenblicke, die jedoch sehr schnell verflogen.
Soft Machine reloaded schien auch auf dem Programm zu stehen. Sphärische Klänge drangen aus den armlangen langen, „elektronischen“ Plastikrohren, die sich mit dumpfen Schlägen des Drumspad vermischten. Zyklisch war das, was aufzunehmen war. Vibrationen erfüllten den Bunker. Hochtöniges traf auf Tieftöniges. Frequenzvermischungen und Satzfetzen wie „I came up with the thoughts …“ drangen an unsere Ohren. Klangtropfen wurden scheinbar zufällig gesetzt. Einige Passagen hörten sich nach sakralen Musikwerken an, die zitiert wurden. Orchestrale Zwischenspiele gab es obendrein, doch vor allem Klanggemälde mit schlierigen Verläufen. Musikalisches Actio Painting war angesagt!
Handsome Couple: Zu einer Gitarre hat es nicht gereicht
Am Ende des Abends gehörte dem Banjo- und Ukulele-Spieler St. Kirchoff – „zu einer richtigen Gitarre hat es nicht gereicht“ (O-Ton St. Kirchhoff) – und dem Drummer Simon Camatta die Bühne. Eigentlich war es ein Spiel mit Zwei spiel Drei, denn ohne die flinken Füße von St. Kirchhoff – eingehüllt in Socken mit unterschiedlichen Gitarrenmotiven – wäre das gemeinsame Spiel unvollständig gewesen. Elektronische Pedalkraft war schon angezeigt, um den entsprechenden Klangspiele nachgehen zu können.
In der Vorankündigung las man: „St. Kirchhoff und Simon Camatta begannen während einer Arbeit für das Theater Bremen damit, Instrumentale Hip-Hop-Musik mit Banjo und Schlagzeug zu spielen. Auftritte auf Partys, Festivals und Vernissagen folgten. Aus anfänglichen Improvisationen entwickelten sich mit der Zeit konkrete Tracks. Chillig und tanzbar. Im Frühjahr 2018 erschien ihre erste CD bei Umland Records.“
Nicht ins Fahrwasser von Folk und Country Music also entführte uns das Duo, nein, es ging schlagfertig und schlagkräftig zu, von A bis Z. Das war angesichts der musikalischen Besetzung mit einem Banjo und einer Ukulele überraschend. Doch Verfremdungen machten aus den beiden Zupfinstrumenten eine Mischung aus Pogo, Punk und mehr. Ab und an schien das Banjo sich in eine Mischung aus Saz und Bouzouki zu verwandeln. Röhrender Rock und Schlagwerkpenetranz gehörten zum nachhaltigen Spiel.
Pattern wiederholten sich unerbittlich. Fußarbeit war von St. Kirchhoff neben Fingerarbeit gefragt. Saitengeschwirr vereinte sich mit gehemmten Snareschwingungen. Funk, Pogo, Hard Rock und Trance gingen eine musikalische Ehe ein, auch bei einem Stück, das Jens Spahn „gewidmet“ war. Dieser hatte sich ja gerade mit einem Millionenauftrag zur Erforschung der Abtreibungsfolgen einen Namen gemacht. Warum hat er einen solchen Auftrag nicht in Sache Schnupfen erteilt. Das fragte sich Simon Camatta mit einem gewissen Sarkasmus. Nun gut, Camatta und St. Kirchoff hatten die musikalische Antwort auf dieses Vorhaben in ihrem Tornister.
Hin und wieder meinte man, Oriental Rock sei auch Gegenstand des Vortrags, zu dem man hätte tanzen können. Doch keiner nahm die entsprechende Aufforderung Simon Camattas an. Und dann war die Exkursion ins Umland irgendwann vorbei. Nachtruhe war im Dorf und Umland angesagt, bis zum nächsten Umland-Abend!!
Fotos und Beitrag © ferdinand dupuis-panther – photos and review are not public commons!!!
Informationen
Musiker
https://simoncamatta.yolasite.com
https://www.facebook.com/Jan-Klare-264103586937463/about/
https://florianwalter.yolasite.com
http://www.stkirchhoff.de
https://www.facebook.com/people/Karl-F-Degenhardt/100000624582915
Umland Records
Reviews
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/h/handsome-couple-handsome-couple/
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/r/rket-rekort/
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/j/jan-klare-alex-schwers-frustice/
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/various/umland-records-weerspiegelt-de-industriële-regio-van-het-ruhrgebied/
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/k/knu-my-horse-doesnt-give-a-shit/
Interviews
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https://www.jazzhalo.be/interviews/simon-camatta-im-gespraech-mit-dem-aus-essen-stammenden-schlagzeuger/
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