Jazzclub domicil, Dortmund 14.3.2022
Unter der Schirmherrschaft der Stadt Dortmund veranstaltete der Jazzclub domicil statt der montäglichen Jam Session ein Konzert ganz im Zeichen der erschütternden Situation in der Ukraine. „Wir stehen zusammen mit der Ukraine und den ukrainischen Menschen gegen den Eingriff in unser aller Freiheitsrechte und setzen ein Zeichen für den Frieden in Europa“, hieß es in einer Stellungnahme des Vorstands des domicil.
Die in Duisburg lebende und aus Kiew stammende Pianistin und Komponistin Aleksandra Hanke hatte zahlreiche Musiker, die sie kennt, gebeten, für diesen Abend ein ad-hoc-Ensemble zu bilden. Mit Dimitrij Markitantov (sax) und Alex Weinstein (drums) standen zwei ehemalige Folkwang-Absolventen aus Essen auf der Bühne. Weinstein arbeitet heute als Dozent an seiner ehemaligen Universität in Essen, Markitantov ist in verschiedensten Formationen zu hören, darunter die Band Kaleidoskop. Der ukrainische Bassist Ilya Alabuzhev studierte Jazz-Kontrabass in Graz und in Berlin und reiste für dieses Konzert eigens aus Malaga an, wo er heute lebt und arbeitet. Aus Köln kam die ursprünglich aus Odessa stammende Vokalistin Tamara Lukasheva nach Dortmund. Die Gruppe wurde durch den Vibrafonisten Igor Krasovskyy ergänzt, der schon lange in Deutschland lebt. Er ist Lehrer an der Dortmunder Musikschule. Diese Musiker bestritten den ersten Teil des Konzerts. Im zweiten Teil war der nunmehr in den USA beheimatete Pianist und Komponist Vadim Neselovskyi zu hören. Mit 15 Jahren hatte er bereits ein Studium am Konservatorium von Odessa aufgenommen. Nach der Übersiedlung seiner Familie nach Deutschland studierte er an der Folkwang Universität Essen und in Boston. Heute lehrt er als Assistenzprofessor am Berklee College of Music (Boston).
Aufgemacht wurde der Abend mit einem Interview der Pianistin Aleksandra Hanke, für die angesichts der Ereignisse in der Ukraine Aufgeben keine Option ist. Zugleich verwies sie darauf, dass die Kämpfe auf dem Maidan und die Absetzung des damaligen Ministerpräsidenten des Landes der Vorläufer des jetzigen Konfliktes ist. Diesen versucht Putin nun auf militärischem Wege durchzusetzen. Die Ukraine soll wieder Kleinrussland werden, also kein unabhängiger demokratischer Staat. Übrigens anbei ein Zusatz des Berichterstatters: Wie es nach der Schaffung eines Vasallenstaats Ukraine um die Freiheitsrechte aussehen wird, kann man am Alltag in der Russischen Föderation ablesen. Wer „wider den Stachel löckt“, wird verfolgt, verschwindet und wird umgebracht.
Doch verlassen wir die politische Debatte und fokussieren uns auf die Musik des Abends. Wuchtige Klänge, die einem Fanal glichen, entlockte Aleksandra Hanke dem Flügel. Da waren dann Garner und Peterson ganz fern. Angesichts der Dramatik des Spiel dachte man eher an klassische Musik, wir wir sie von bekannten russischen Komponisten her kennen. Der Saxofonist Dimitrij Markitantov folgte den Klangspuren der Pianistin und variierte diese. Derweil übte sich der Bassist in Klangströmen jenseits der Dunkeltönigkeit. Insgesamt hatte man den Eindruck, es gehe allen Beteiligten um die Suche nach der Schönheit der Melodie. Nachfolgend nahm uns die Pianistin im zweiten Stück nach Polen mit. Dort hatte sie zeitweilig gelebt und sich in Krakau niedergelassen. „Blue Lake“ lautet der Titel der Komposition. Sehr lyrisch war der Beginn des Stücks ausgeformt. Man meinte bei geschlossenen Augen, das Wasser des Sees am Ufer auslaufen zu hören. Hörte man nicht auch das durch den Wind verursachte Kräuseln der Wasserfläche? Beinahe samten und seidig klang das, was der Altsaxofonist vortrug. Es schien, als fing er das sanfte Laubrauschen der Bäume am Seeufer ein. Wer die Malerei der Berliner Seen kennt, die Walther Leistikow geschaffen hat, konnte Visualisierungen von Landschaftsbildern zur gehörten Musik realisieren.
Ein Hauch von Melancholie durchzog den Vortrag. Auch der Bassist Ilya Alabuzhev bildete da keine Ausnahme in seinen klanglichen Erdfarben, die er vor unseren Augen der musikalischen Palette entnahm. Das Flirren der Snare verband sich mit dem Schwirren der Bleche. Als würde eine Glasorgel erklingen, so erschien das Spiel des Vibrafonisten, glasklar und kristallen. Beim nächsten Stück kam die Vokalistin Tamara Lukasheva auf die Bühne. Sie erweiterte das Klangspektrum des Ensembles durch die instrumental eingebrachte Stimme. Anlehnungen an Scat war zu hören und wenn nicht dies, dann lautmalerische Nebelschwaden, die den Konzertsaal füllten. Da gab es so etwas wie Doladiladiladi oder Ähnliches zu vernehmen. Ihre Stimme ließ die Vokalistin zwischen Alt und Sopran changieren, erklomm dabei auch die sehr hohen Soprantöne, ohne dass die Stimme einbrach. Im Gefolge der Stimmartistin bewegte sich der Altsaxofonist, der lyrische Sequenzen schuf.
Aus der Feder der Vokalistin stammte der nachfolge Song namens „Question Song“. Eingebunden in diesen Song war die Frage nach dem Glück und wann es denn komme. Nicht lyrische Textformeln waren das Entscheidende, sondern die stimmlichen Schwebstoffe. Lauschte man den Passagen, die der Saxofonist zum Stück beitrug, dann meinte man völlig entrückt zu schweben. Zum Ende des ersten Konzertteils meinte man, man erlebe eher Chansons und Lieder, die man beim Eurovisionswettbewerb erwarten würde. Da stand das Textliche im Fokus, war wenig Raum für die Improvisationselemente, von denen der Jazz zehrt.
Den zweiten Teil des Abends bestritt zunächst der eigentlich russischsprachige Pianist und Komponist Vadim Neselovskyi solistisch und danach im Duett mit der Vokalistin Tamara Lukasheva. Als erstes Stück hörten wir eine Komposition, deren Titel mit Grenze und Kreis zu übersetzen ist. Zugleich klingt der Titel wie das englische „cry“. Voller Dramatik war der Beginn des Stücks. Man meinte Brüche und Aufbrüche zu erleben. Nicht nur eine akzentuierte Basshand zeichnete den Pianisten aus, sondern auch leise Töne, die er aus der Tiefe des Flügels entwickelte. Klanghagel und Donnerschläge trafen die Zuhörer. Rollende Liniensysteme schienen eingebunden zu sein. Auch Klangsaltos erlebten wir. Fragiles wurde dem Publikum nahegebracht. Polierte und geschliffene Sequenzen wurden hörbar. Sturmglocken schienen obendrein zu läuten.
Nachfolgend nahm uns Neselovskyi auf eine imaginäre Stadterkundung von Odessa mit. Dies ist teil eines Projekts, mit dem sich der Pianist seit zwei Jahren intensiv beschäftigt. Er zeigt uns eine Stadt, deren Bewohner Sinn für Humor haben, aber auch schon viele Tränen vergossen haben, so Neselovskyi in seiner Einführung zum Stück. „Odessa Serail Station“ lautet der Titel des vorgetragenen Stücks. Zunächst ließ die Basshand den Flügel in seinen Grundfesten erschüttern. Da meinte man, man stehe in einem urigen Hammerwerk und sehe dem niedergehenden Hammer zu, mit dem Eisen in Form gebracht wird. Anschließend schien der Pianist eine Szene mit ausgelassen spielenden Kindern einzufangen. Jedenfalls drangen Klänge ans Ohr, die Leichtfüßigkeit einfingen und ein gewisses Hopsen. Man vernahm das Gerenne und Getrippel der Reisenden auf den Bahnsteigen. Beim Zuhören konnte man sich auch sehr gut vorstellen, dass Vadim mit seiner Musik Passagen aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergei Eisenstein begleite, in der die berühmte Treppe von Odessa im Mittelpunkt steht. Zum Abschluss des zweiten Konzertteils hörten wir dann noch zwei Stücke, in denen sich die Vokalistin mit dem Pianisten die Bühne für ihre Klangwelten teilten.
Zum Schluss
Ja, zum Schluss hörten die Anwesenden die ukrainische Nationalhymne und den Ruf „Vorwärts Ukraine“, wenn der Autor es richtig verstanden hat. Wie auch während des Konzertabends war Pathos gelegentlich unüberhörbar. Aus der Situation der beteiligten Musiker war dieser Schlussakkord nachvollziehbar, aber nicht zwingend notwendig.
Während des Konzerts gab es immer wieder Unterbrechungen durch Talkrunden, in denen Aleksandra Hanke, Vadim Neselovskyi und Tamara Lukasheva ihre Positionen zum Krieg bzw. dem russischen Überfall auf die Ukraine darlegten. Teilweise fielen markige Worte. Die Stunde des Pazifismus war nicht angesagt. Die vorgetragenen Standpunkte musste man nicht teilen, aber respektieren. Hier und da fehlte das distanziert Analytische und das Aufzeigen von Konsequenzen. Der Ruf nach Bewaffnung war ebenso schnell gemacht wie Appelle an die NATO. Welche Folgen das haben kann, wurde in den Stellungnahmen weitgehend ausgespart.
Spendenaufruf
Der Eintritt zum Konzert war frei. Der empfohlene Spendenbetrag betrug mindestens 20,00 €. Auch nach dem Konzertabend ist es möglich zu spenden.
Spenden an:
domicil gemeinnützige GmbH
IBAN: DE85 4405 0199 0921 0070 00
BIC: DORTDE33XXX, Sparkasse Dortmund
Betreff: Ukrainehilfe).
© text und fotos ferdinand dupuis-panther
Info
Line-up
Aleksandra Hanke – Piano
Tamara Lukasheva – Vocal
Dimitrij Markitantov – Saxophon
Ilya Alabuzev – Bass
Alexandr Weinstein – Drums
Igor Krasovskyy – Vibraphon
Vadim Neselovskyi – Piano
www.domicil-dortmund.de
https://www.domicil-dortmund.de/progra.../ukraine-abend.html
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