Veranstaltet vom Kulturamt der Stadt Münster wartete die „Shortcut"-Ausgabe, die sich jährlich mit dem dreitägigen Jazzfestival abwechselt, mit drei Konzerten auf. Internationale Entdeckungen und Premieren prägten das Festival, so las man es sinngemäß im Vorwege. Der künstlerische Leiter des Festivals Fritz Schmücker hatte 15 Musikerinnen und Musiker aus sieben Ländern eingeladen. Zwei der Konzerte waren Deutschlandpremieren, eines war sogar eine Uraufführung. Doch angesichts derartiger Ankündigungen war auch Skepsis angesagt. Nicht immer erfüllen derart vollmundig angekündigte Bands und Projekte die Erwartungen. Wer die Latte hoch hängt, kann eben auch rief fallen, oder?
Auffallend war, dass kein Musiker und keine Band aus der vielfältigen deutschen Jazzszene zwischen Hamburg, Berlin, Essen und Köln eine Einladung zu dem diesjährigen „Festival“ erhalten hatten. Warum eigentlich nicht? Während andere Festivals in Deutschland und Europa sich als Bühne für die eigene Szene verstehen, scheint dies in Münster weitgehend ausgeklammert zu werden. Einzige Ausnahme ist der alle zwei Jahre verliehene Westfalen-Jazz-Preis. Ohne Frage, die jeweiligen Preisträger bekamen und bekommen ihre Bühne. Übrigens, dass der künstlerische Festivalleiter in Deutschland eher unbekannte Musiker/innen präsentiert, ist gewiss verdienstvoll, aber wie gesagt, die Szene hierzulande hat eben auch spannende Projekte zu bieten. Gut, man könnte argumentieren, dass die Festivals wie in Viersen, Hilden oder Take5 Jazz am Hellweg durchaus Jazzmusiker/innen aus dem deutschsprachigen Raum berücksichtigen. Insoweit ist auch die deutsche Jazzszene zum Teil öffentlich präsent, nur eben nicht in ihrer Vielfalt in Münster. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Mal keine swingende Geige
Aufgemacht wurde das diesjährige Festival „Shortcut“ durch die preisgekrönte Violinistin und Performerin Anaïs Drago, die zu den größten Talenten der jungen Generation im italienischen Jazz gehört, so die Vorankündigung. Sie bildet seit diesem Jahr zusammen mit dem Klarinettisten Federico Calcagno und Schlagzeuger Max Trabucco das Trio „Terre Ballerine" (deutsch: tanzende Länder). Zur musikalischen Charakterisierung des Trios, deren Mitglieder auf der Bühne weit von einander entfernt standen, hieß es in der Vorabpressemitteilung in etwa: Das Repertoire des Trios reicht von Jazz bis zu zeitgenössischer Klassik, Pop und Folklore. Die Stücke hat Drago eigens für dieses Ensemble geschrieben - ein fantasievolles Experimentieren mit unterschiedlichen Techniken und Klangfarben.
Ohne große Vorrede durch die Bandleaderin begann das Konzert. Übrigens, auch wenn Drago zwischendrin immer wieder mal Titel ansagte, waren diese akustisch nicht wirklich zu verstehen. So waren solche Ansagen schlicht überflüssig und unterbrachen nur den Konzertfluss. Der Klang kurz angerissener Violinen-Saiten drang an die Ohren der Zuhörer. Anschließend folgten lange Bogenstriche über die Saiten, gefolgt von nicht nachschwingenden Klängen. Ähnlich wie bei einem Banjo fehlte es an einem vollen, runden Klang. Irgendwie hatte das Spiel von Drago auch etwas Schroffes. Diese Schroffheit und kurze Klanghaftigkeit traf auf die Weichzeichnungen und Tieftönigkeit der Bassklarinette. Begleitet wurde dies durch kurzes Ticketicketacktack und ein kurz angetipptes Hi-Hat. Während sich der Klarinettist dem Melodischen hingab, verharrte die Violinistin in einem rhythmisch geprägten Muster. Auffallend war, dass Federico Calcagno nicht nur die Tiefen seiner Bassklarinette ausreizte, sondern auch deren Höhen. Teilweise inszenierte er Klangkaskaden, während der Drummer sehr zurückhaltend agierte. Folgte man den Linien des Klarinettisten, so meinte man, eine klangliche Umsetzung von Bewegung, von Schritten hierher und dorthin zu erkennen.
Die Violinistin Drago erinnerte in ihrem Spiel an das eines Streichorchesters, überhaupt nicht rockig ausgeformt wie bei Didier Lockwood zum Beispiel. Aber auch der Swing von Grappelli spielte bei Drago keine Rolle. Zu erleben waren jedoch temporeiche Zwischenschritte, die das Trio unternahm, mal mit und mal ohne agierenden Drummer.
Nachfolgend hörten wir ein Stück, das eher einem Lamento ähnelte. Getragenes wurde vorgetragen. Zugleich aber gab es hier und da Sirenengesang zu erleben. Eine dunkle Stimmung ging von dem Stück aus, und dies erinnerte an symbolistische Gemälde eines Arnold Böcklins. Pizzicato erlebten wir und trommelnde Finger auf den Fellen des Drumkits. Darüber hinaus sorgte Max Trabucco mit klatschenden Händen für eine rhythmische Auflockerung. Sobald dann der Klarinettist das musikalische Zepter führte, änderte sich der Charakter des Stück, und man war geneigt, an einen Tanz zu denken.
Während zunächst die verstärkte akustische Violine zu hören war, brachte Drago auch ihre korpuslose E-Violine und Effekte mit ins Spiel. Doch von Fusion konnte keine Rede sein. Irritierend war zugleich, dass nicht nur Notenpulte vor den Musikern standen, sondern auch wie in einem klassischen Konzert mit notierten Kompositionen Notenblätter umgeschlagen wurden. Das ist so gänzlich untypisch für Jazzmusiker und solche, die sich dem Free Jazz und der freien Musik verbunden fühlen. So drängte sich dem Zuhörer der Eindruck auf, dass die Stücke von A bis Z strukturiert sind, also eben keine Freiräume gegeben waren. Völlig auf Basstrommel und Toms reduziert war das Schlagwerk des Trommlers. Minimalistisch könnte man auch dazu sagen.
Mit Loops, so der Eindruck, arbeitete das Trio, ließ klangliche Wellenschläge entstehen. Ein Klangteppich wurde im Theater Münster ausgerollt, ehe der Bassklarinettist seine Erzählung begann. Eine gewisse Wehmut wurde zum Ausdruck gebracht. Die Musik des Nordens zwischen Grieg und Sibelius drängte sich auf. Die Klarinette schien zu klagen und zu wimmern, derweil man ein wenig Glöckchenspiel aufnahm. Drago begleitete ihr Spiel teilweise durch ihre Stimme, erst kaum hörbar und dann doch offensichtlich.
Schnalzlaute des Klarinettisten verbanden sich mit lautmalerischen Äußerungen Dragos. Ihr Spiel auf der Violine glich zeitweilig dem Spiel auf einem Cello. Daran musste man auch denken, weil Drago im Sitzen ihre Violine senkrecht zwischen die Oberschenkel nahm, so wie auch ein Cello gespielt wird.
Neben eigenen Stücken und Suiten trug das Trio auch eine Arbeit von John Cage namens „Dance 8“ vor. Warum diese Arbeit integraler Teil des Konzerts war, wurde dem Publikum allerdings nicht vermittelt, auch nicht in welchem Kontext das Stück steht und welcher Bezug zwischen dem Trio und John Cage besteht. Zum Schluss gab es dann noch Stücke mit mediterranen Stimmungen zu erleben.
Sinn für die Schönheit der Klangpoesie
Dieses war der erste Streich und dann folgte auch der zweite Streich: Serpent-Spieler Michel Godard, Kanun-Spielerin Sofia Labropoulou, Drehleier-Virtuose Matthias Loibner und Schlagzeuger Lucas Niggli fanden sich speziell für das Jazzfestival Münster zum Quartett „Alchemia Ocean" zusammen. Während das Serpent der schlangenförmige Vorgänger der Tuba aus dem 16. Jahrhundert ist, stammt das Kanun, eine Art Kastenzither, bereits aus dem 10. Jahrhundert. Die Drehleier ist ein aus dem Mittelalter bekanntes, mechanisches Streichinstrument.
Alchemia steht für Hexenküche, Alchemie, geheimnisvolle Kunst und Goldmacherkunst. Und was hatte das mit dem Quartett auf der Bühne zu tun? Nun ja geköchelt im übertragenen Sinne wurde schon, arbeiteten die vier Musiker doch an einer farbenfrohen Klangmelange, ließen sich Annäherungen an Alte Musik erkennen, aber auch an mittelalterlichen Minnesang, lauschte man der Drehleier. Zugleich nahmen sie uns dank einer präparierten Kastenzither und einer teilweise modulierten Drehleier auch in moderne Klangwelten mit, begleitet von fulminantem Schlagwerkspiel und klangtänzerischen Perkussionen, die Lucas Niggli zum Klangbild beitrug.
Über weite Strecken entzog sich das, was wir hörten einer eindeutigen Ein- und Zuordnung. Zu denken war eben an Alte Musik, vor allem wenn man dem Serpentspieler folgte. Die Serpent hatte beim Spielen durch Goddard den Klang einer Bassposaune und nur selten den einer Tuba. Große Resonanz war mit der Serpent nicht zu erzielen. Das liegt wohl auch an dem gewundenen Schlangenkorpus des Blasinstruments und des eher kleinen Schalltrichters. Insoweit ist das Instrument auch nicht mit der gedrungenen Tuba zu vergleichen, die einen großen Trichter besetzt, von einem Sousaphon soll gar nicht die Rede sein.
Und es gab noch einen Unterschied zum Klang und dem Spiel auf der Tuba, das häufig sehr rhythmisch ausgeformt ist. Goddard spielte sehr weiche Linien, zeichnete gleichsam eine Gouache des Klangs. Hin und wieder drang auch ein Brummen, Schwirren und Brabbeln an unsere Ohren. Von Humpda-Humpda war nun ganz und gar nichts zu vernehmen. Brodelnd-Feuriges gab es auch nicht, auch wenn man beim Namen der Band an Alchemisten-Küche denken konnte. Nein, der Duktus und Erzählstil des Quartetts war eher als lyrisch-liedhaft zu bezeichnen.
Überaus samten und die Schönheit der Melodie pflegend klang das, was Goddard seinem Bass-Instrument der Zinken-Familie entlockte. Dieses Instrument wird übrigens mit einem Kesselmundstück geblasen. Bisweilen meinte man, man vernehme Nebelhörner, mal aber auch das Schwirren einer Posaune oder den seidenmatten Klang eines Flügelhorns. Eher schrill klang dazu die Drehleier und metallisch das Saiten-Schwirren der Kastenzither, die ihren Platz eigentlich in der arabischen und türkischen Kunstmusik hat. Ab und an musste man beim Lauschen der angerissenen Zithersaiten auch an eine „kurz angebundene“ Harfe denken, wenn auch der Weichklang fehlte.
Die Klangformen der Drehleier ließen gelegentlich an ein Jaulen, Wimmern und Jammern denken. Gedämpfte Bleche schwangen hin und her, verbreiteten ein Rauschen. Klang die Drehleier nicht im Weiteren ab und an wie der gequälte Ruf des Muezzins? Besen fegten derweil über Felle und Bleche unterschiedlichen Durchmessers. Nachhaltig hielten sich die Klänge der Serpent nicht. Einmal angespielt, versanken sie schnell im Nichts. An Sakrales, an Psalmen und Hymnus, musste der eine oder andere u. U. denken, nur nicht wenn die Serpent schnurrte und nicht säuselnd ihre melodischen Linien „malte“.
Sehr beeindruckend und sicherlich für die meisten Anwesenden ein erstmaliger Höreindruck war das Zwiegespräch zwischen Drehleier und der trapezförmig gebauten Kanun. Sofia Labropoulou zupfte teilweise die Saiten des Instruments, das sie zwischenzeitlich immer mal wieder präparierte. Ab und an nutzte sie zum Spiel auch Hämmerchen wie sie bei einem Hackbrett genutzt werden. Die Leier verwandelte sich im Verlauf des Konzerts auch in ein „wahres“ Streichinstrument. Ins Meditative glitten die Sequenzen ab, die Goddard seinem Blasinstrument entlockte.
Lucas Niggli zog während des Konzerts alle Register eines Perkussionisten, der stets einen Blick für seine Mitspieler hatte. Er schwang „Rohrstöcke“, knetete „Reisigsticks“, ließ Rasseln unterschiedlicher Art kreisen oder brachte ein rundes mit Murmeln gefülltes Kästlein zum Klingen, hin und wieder schlug er auch mit den Fingern auf die Felle der Trommel. Niggli ließ zudem Schlägel in einer Trommelkaskade über sein Drumkit „fliegen“. Übrigens, im Fortgang des Konzerts ging der Klang der Kastenzither teilweise gegenüber der Tongewalt des Leierspiels und des wilden Drummings unter. Nur wenn dann ein Kanon-Solo anstand, dann wurde deutlich, welche Klangbreite und Färbungen dem Instrument innewohnen. Da war auch an Oud-, Gitarren-, Banjo- und Sazklang zu denken. Das war dann wirklich ein Hochgenuss. Dabei verschwand dann die Frage, ob das nun etwas mit Jazz zu tun hat oder nicht. Die Musik entzog sich weitgehend den gängigen Schubladeneinordnungen. Ob man dabei nun an höfische Musik, an mittelalterliche Weisen, an Volksliedgut vergangener Tage, an Oud-Musik aus dem Maghreb oder an andere musikalische Genres dachte.
Der Beifall war überschwänglich und ein Encore keine Frage. Der Berichterstatter hätte sich noch weiterhin der Musik des Quartetts hingeben können, doch die dritte Band wartete auf ihren Auftritt.
Zu guter Letzt hörten wir am sogenannten Dreikönigstag 2024 Zoe Rahman mit ihrem Oktett. Der Stil der englischen Pianistin und Komponistin Zoe Rahman ist tief im Jazz verwurzelt und zeigt dennoch ihre klassische Prägung sowie ihren bengalischen Hintergrund. Rahmans Album „Colour of Sound" hat das „Jazzwise"- Magazin als eines der besten Alben des Jahres ausgezeichnet. Die sieben Musikerinnen und Musiker, die Zoe Rahman für ihr Oktett ausgewählt hat, erwiesen sich als durchaus virtuos, aber in ihren Klangäußerungen auch vorhersehbar. Das mag nicht nach dem Geschmack eines jeden gewesen sein. Doch das eh sehr beifallsfreudige Münsteraner Publikum geizte bei fortgeschrittener Stunden nicht mit herzlichem Beifall.
Übrigens, für 30 Tage kann man die Konzerte nachhören. Warum eigentlich nicht länger? Und wieso wurden die Konzerte nicht fürs Fernsehen aufgezeichnet? Schließlich: Warum begann die Übertragung, die als Live-Übertragung im WDR 3 bezeichnet wurde, zwei Stunden nach Beginn des ersten Konzerts?
© fotos und text ferdinand dupuis-panther
Anmerkung:
In einer Konzertkritik in der Tageszeitung WN stand zu lesen, das Trio um Drago Nick Caves "Dance No 8" interpretierte. Der Berichterstattung des Magazins nahm, wie oben aufgegührt, einen anderen Namen wahr, John Cage.
Info
Nur bis /Until 5.2.2024 https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-konzert/konzertplayer-jazzfestival-muenster-shortcuts-100.html
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