Mario Senge Group, Wasserturm, Gütersloh am 30. September 2018

Jazz and more – zwischen Wintergarten und Sommerzeit




Ein Sextett mit zwei Gitarristen bespielte an einem herrlichen Herbstsonntag den 1888 in Betrieb genommenen und nunmehr außer Betrieb gestellten Gütersloher Wasserturm, einen sicherlich ungewöhnlichen und nicht alltäglichen Ort für Jazz and more. Vor allem die Liebhaber brasilianischen Jazz aus der Feder von Carlos Antonio Jobim kamen, das sei vorweggenommen, ganz gewiss auf ihre Kosten. Jedoch nicht nur dessen Musik war zu hören, sondern auch „Eigengewächse“. Für die richtigen Töne und das richtige Timing sorgten die folgenden Musiker: Ellen Skrodzki-Senge (git/voc), Jürgen Steinberg (dr), Michael Voss (bs). Mario Senge (git/voc), Lena-Larissa Senge (voc/fl) und Axel Senge (sop/alt/ten sax).

Was hatten die Konzertbesucher zu erwarten? In der Vorankündigung hieß es u. a.: „Der Rhythmus war zuerst - die stilistische Melange aus Eigenkompositionen und Standard-Bearbeitungen nährt sich aus dem reichhaltigen Fundus der Latin-Jazz-Küche und des Jazz-Fusion. … Eigenkompositionen, die die Balance zwischen improvisierter Offenheit und rahmender Struktur bewahren, stellen das Liedhafte in den Mittelpunkt. Einfache, oft mit zwei Instrumenten synchron gespielte und gesungene Melodien erlauben es, sich ganz auf das antizipierende Zusammenspiel einzustellen.“ Na dann!


Mit dem Gedanken an Afrika und inspiriert von der „Steppe zwischen Bielefeld und Gütersloh in diesem Sommer“ entstand, so Mario Senge das erste Stück des Abends, das ein Ausrufezeichen setzte, nicht nur in Puncto Leichtigkeit und melodischer Kontur. Mutig muss man schon sein, so der Bandleader der Mario Senge Group, will man die Zukunft angehen. Und man muss auch kompositorische Konzepte durchhalten, so auch die Arpeggios, die „Brave Steps“ durchziehen. An Obama habe er auch gedacht, als er die Komposition zu Papier brachte. Auszüge aus einer Rede Obamas zu den Menschenrechten wurden daher in das Stück eingebunden und von Lena-Larissa Senge vorgetragen. Besonders auffallend war das harmonische Zusammentreffen der beiden Gitarren, zeitweilig in Zweistimmigkeit vereint. Federleicht trat das Saxofon in Erscheinung, schwebend und dahingleitend die Flöte. Ruhend-ruhig gab sich der E-Bass. Bisweilen hatte man den Eindruck, Mario Senge würde seiner E-Gitarre tänzelnde Akkorde entlocken.

Was kann ein Wintergarten sein? Ein Ort der Wünsche? Ein Rückzugsort mit Sonnenblumen, ein Ort des Lichts. Diesen „Jardin d‘hiver“ besang Lena-Larissa Senge, wobei sie zuvor den französischen Text kurz zusammenfasste. Dem Song war eine gewisse Bossa-Beigabe eigen, wenn auch die Lyrik in französischer Sprache an traditionelles Chanson denken ließ. Dass Lena-Larissa Senge nicht nur stimmsicher singen konnte, sich nicht im höchsten Sopran verlor, sondern eher auch im Alt gegründet war, unterstrich die Sängerin und Flötistin nachhaltig. Zudem beherrschte sie Scat Vocal mit all den lautmalerischen Schnörkeln, die dazugehören. Sehr gelungen waren auch die Phrasierungen der Nylon-String-Gitarre über die gesungenen Passagen.


Dass Jobim und auch Latin Jazz das ist, was allen Bandmitgliedern am Herzen liegt, unterstrichen die Musiker im Nachgang dann bei einem Song über die Hoffnungslosigkeit, in der die Bewohner der Favelas von Rio zu versinken drohen, auch wenn sie stets wie beim Karneval ihre Lebensfreude zum Ausdruck bringen. Ein südamerikanischer Klangteppich wurde im Wasserturm ausgebreitet. Scat Vocal mit Bebesambobe und ähnlichen lautlichen Malereien entfaltete sich.

„Ambivalence“, eine der Eigenkompositionen, die beim Konzert zu hören waren, erschien musikalisch gar nicht so zerrissen und gespalten, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Auch von Leidenschaft und Trennung, wie in der kurzen Einführung anklingend, war wenig bis gar nichts zu spüren. Entstanden war der Song bei einem Finnland-Besuch. Nein, die depressive Schwere, die teilweise der Musik von Sibelius und auch dem finnischen Tango innewohnt, erlebten wir nicht. Statt dessen hörten wir frische, muntere Gitarrensequenzen, so als würde ein finnischer Jahrhundertsommer besungen, als ginge es um die sogenannten Weißen Nächte, die nicht enden wollen.


Jobim war im Geist dabei, als „Triste“ erklang und nicht nur die Musiker schienen dabei, ganz beschwingt zu sein. Der Song schien das Motto „Lebe das Leben“ mit Bossa-Schwung zu vermitteln. Dass auch eine Bucht und ein fast paradiesisch zu nennender Strand am Beginn einer Kompositionsidee stehen kann, nachdem man eine schwere Wanderung hinter sich gebracht hatte, zeigte sich in „Sa Conca“, einem Stück, das durchaus klassische Klangweberei in sich barg. Ganz wesentlich bestimmten die beiden Gitarristen der Mario Senge Group das Klanggeschehen, wenn auch Lena-Larissa Senge erneut unter Beweis stellte, dass Scat Vocal so etwas wie ihre zweite Natur ist.

Mitreißend, auch ohne die Streicher des Originals, fiel Bill Withers‘ ''Ain't No Sunshine'' aus. Da mischten sich Blues und Funk. Dass dazu nicht unbedingt eine „schwarze Stimme“ notwendig ist, unterstrich Lena-Larissa Senge mit ihrem Gesang. Bei diesem Song kam auch der Bassist Michael Voss in Schwung, wenn er auch nicht mit seinem Bass tanzte, sondern wie auch in den übrigen Songs zur essentiellen Erdung beitrug.


Mario Senge ließ die Zuhörer wissen, dass es ihm der Gitarrist John Abercrombie – er weilt nun auch nicht mehr unter uns – sehr angetan habe. So sei seine Komposition „39 Reflections“ gleichsam ein Nachruf auf diesen legendären Gitarristen, dessen Album „39 Steps“ die „Vorlage“ bildet. Aber auch bei diesem Stück konnte man nicht überhören, dass stets auch Latin Jazz beigemischt war. „Early Flower“ war als Abschluss des Konzerts gedacht, aber dank lautstarker „Zugabe-Zugabe-Rufe“ setzte die Band noch einen drauf: „Summertime“; nein, nicht mit der rauchig-kratzenden Stimme einer Janis Joplin vorgetragen, sondern mit dem dezenten Timbre von Lena-Larissa Senge. So ging ein lauer Herbsttag zu Ende, der allen Anwesenden gewiss im Gedächtnis haften bleiben dürfte.


Text unf Fotos: © ferdinand dupuis-panther – Text und Fotos sind nicht public commons!


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