Museum für Lackkunst Münster, 25. Oktober 2018:
Von „Get Out Of Town“ bis „How Deep Is The Ocean“
Wieder einmal und zum letzten Mal in diesem Jahr hatte der Münsteraner Schlagzeuger Ben Bönniger hochkarätige Musiker eingeladen, um wie stets in einer Art Premiere ein Konzert zu „inszenieren“. Diesmal war es der in der italienischen Jazzszene bekannte Tenorsaxofonist Matteo Raggi, der aus Bologna nach Münster gereist war. Raggi erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen bei verschiedenen Wettbewerben, unterrichtet unter anderem an der “Accademia Culturale” in Bologna und leitet regelmäßig Jazz-Workshops u. a. in Düsseldorf. Aus Köln war einer der gefragtesten Pianisten nach Münster gekommen: Martin Sasse ist seit Jahrzehnten durch zahlreiche Clubtourneen, Festivalauftritte, TV- und Rundfunkproduktionen bekannt. Auch im Rahmen des größten Klavierfestivals der Welt, dem „Klavierfestival Ruhr“, war er schon in der Jahrhunderthalle Bochum zu hören. Schließlich war Walfried Böcker als Bassist integraler Bestandteil des ad-hoc-Quartetts an diesem grauen Oktoberabend.
Im Geiste von Desmond, Mulligan und Webster
Um es vorwegzunehmen, Matteo Raggi pflegt einen Ansatz, der Erinnerungen an Ben Webster, Paul Desmond und Gary Mulligan wachruft. Nein, ein marktschreierisches Saxofon, das alle anderen übertönt, ist nicht die Sache des italienischen Musikers, wie man sich beim Konzert überzeugen konnte. Weichklang, beinahe Samtklang, war das, was zu hören war, unplugged. Nur Walfried Böcker verstärkte seinen Tieftöner leicht, schließlich wollte auch er bei seinem Saitenspiel gehört werden. Wie auch bei anderen Konzerten der Reihe legten die Musiker das Augenmerk nicht nur auf Raum für Solos, einschließlich eingestreuter Drumssolos, sondern auch auf das Aufbrechen des Quartetts in Duos und Trios. Das gelang auf ganz unnachahmliche Weise, von Matteo Raggi angestoßen und mit Aufmerksamkeit verfolgt.
Standards mit Frischzellenkur
Vor allem Standards, wenn auch nicht die allzu gängigen, standen im Mittelpunkt des Konzerts, darunter auch „Tea For Two“ aus dem Musical „No, No, Nanette“ sowie „Crazy She Calls Me“, auch bekannt als „Crazy He Calls Me“ und unter anderem von Billy Holiday bekannt gemacht. Zum Repertoire von Charlie Parker und Clifford Brown gehörte der von Roy Noble geschriebene Titel „Cherokee“, der an diesem Abend im Museum für Lackkunst auch zu hören war. „From m to M“ war der einzige Titel aus der Feder von Matteo Raggi. Schade, dass nicht mehr Eigenes von diesem Tenorsaxofonisten aus Bologna dargeboten wurde, oder? Dieser Song Raggis fügte sich nahtlos in die Arrangements der genannten Standards ein, die unter anderem aus den 1930er und 1940er Jahren stammen. Altbacken klangen sie nicht, denn dafür sorgten Matteo Raggi und seine Mitmusiker schon. Wieder einmal wurde damit unterstrichen, dass nicht das Was, sondern das Wie von entscheidender Bedeutung ist.
Guten Abend, Cole Porter
Aufgemacht wurde mit „Get Out Of Town“, einem Titel von Cole Porter. Sehr weiche Sequenzen umspielten das Ohr der Zuhörer. Lang gezogene Klangwolken malte Matteo Raggi mit seinem Holzbläser. Sie bahnten sich ihren Weg, unaufhaltsam. Für den einen oder anderen wurden alsbald Erinnerung an „Round Midnight“ wach. Vielleicht blitzte auch beim Zuhören der Gedanke an Sonny Rollins auf.
Es war zwar noch nicht um Mitternacht, als das Konzert begann, aber dennoch unternahmen die Anwesenden mit den Musikern auf der Bühne eine Zeitreise in eine Zeit, als Jazz noch konkurrenzlos und die angesagte Popularmusik war.
Dass wir auf Verszeilen wie „Get out of town / Before it's too late, my love / Get out of town /Be good to me, please“ tat dem Hörgenuss keinen Abbruch. Gefühlvoll und mit Achtsamkeit agierte Ben Bönniger an Fellen und Blechen, derweil Martin Sasse Phrasierungen erklingen ließ, die sich auf Matteo Raggis Sequenzen bezogen. Teilweise perlten die Töne über Klangstufen. Schließlich brachte Walfried Böcker seinem dickbäuchigen Saiteninstrument das Tänzeln bei, beließ seine linke Griffhand nicht allein am Hals des Kontrabasses, sondern wanderten mit seinen Fingern zum Korpus des Tieftöners hinab. Beschwingt war das gesamte Spiel.
Bei „Tea For Two“ war es an Matteo Raggi den Klangreigen zu eröffnen. Leicht balladenhaft war das Stück eingefärbt. Irgendwie schien hier und da auch Jive durchzuscheinen, Ab und an hatte man den Eindruck, man werde mit der Musik auf eine Fahrt im Buik oder Chevy entlang von Palmen bestandenen Boulevards mitgenommen. Ohne Frage war das Solo von Walfried Böcker ein Hinhörer schlechthin. Selten genug steht mal der Bass im Mittelpunkt des Klanggeschehens, vor allem wenn ein Saxofon das dominante Instrument einer Besetzung ist. Doch an diesem Abend gab es genug Raum für Saitenausschweifungen.
Love was in the air
Liebesglück und Liebesleid schienen sich in „I Thought About You“ zu bündeln. Dieser Eindruck drängte sich insbesondere beim Solo von Walfried Böcker auf. Klangliche Brandung kam auf, als Matteo Raggi seinen Holzbläser in den Fokus des musikalischen Geschehens rückte, begleitet von Trillern und einer gewissen bluesigen Schwere, die Martin Sasse am Flügel zu verdanken war. Nach Sehnsucht klangen die Melodielinien von „Crazy She Calls Me“. Auch hier war das Melodische das Kernstück der Komposition, was auch auf Raggis Stück „From m to M“ zutraf.
Die übrigen Stücke, denen wir aufmerksam lauschten, schienen melodisch und von den Harmonien her beinahe wie aus einem Guss, ob mit oder ohne Swing und Grooves. Wie ein Liebesbrief mit Klangnotierungen muss man sich „My Old Flame“ vorstellen, wenn eben nicht Billy Holiday gesanglich zu hören ist: „My old flame / I can't even think of his name / But it's funny now and then / ...“. Das Quartett verzichtete auf gesangliche Einlagen und folgte damit eher Charlie Parker, der mit Max Roach und Miles Davis zusammen diesen Titel auch eingespielt hat. Matteo Raggi, wenn auch nicht am Altsaxofon wie Parker, schlüpfte in dessen Rolle, so mein Eindruck, als er gedankenschwer der Verflossenen „nachtrauerte“. Auch wenn es kein Trompetensolo zu hören gab, so wie bei Parker und seiner Band, überzeugte das vorgetragene Arrangement. Nicht nur bei diesem Stück gab es herzlichen Zwischenbeifalls für die solistischen Einlagen.
Das Ausloten der Tiefe des Ozeans - „How Deep Is The Ocean“ - und „If I Only Had A Brain“ bildeten den Ausklang des Abends. Die Zeitreise zurück in die Blütezeit des Jazz war am Ende. Matteo Raggi muss man sich, so das Fazit, unbedingt merken, denn es gibt nur wenige seiner Zunft, die so authentisch Jazz von Parker, Webster, Hubbard und anderen „Legenden“ leben und auf die Bühne bringen können.
Text und Fotos: © ferdinand dupuis-panther Text unf Fotos sind nicht public commons!
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