Für viele Teilnehmer - auch für die beteiligten Musiker - war ein morgendliches Konzert um 11 Uhr eine Besonderheit, worauf Antoine Pierre beim Auftritt mit Urbex hinwies. Gut gewählt war der konzertant, kammermusikalisch ausgerichtete Auftakt des zweiten Tags des diesjährigen Belgian Jazz Meetings mit dem Duo Linus, bestehend aus Thomas Jillings und Ruben Machtelinckx, gefolgt von Antoine Pierres Urbex, einer achtköpfigen Band, bei der an diesem Tag nicht Bram de Looze, sondern Fabian Fiorini am Grand Piano saß.
Konzertantes Linienspiel im Duo
Sehr auf weiche, lyrische Linien und Formen waren Thomas Jillings am Saxofon, aber auch am Synthesizer, und Ruben Machtelinckx an der Baritongitarre ausgerichtet. Im Verlauf des Konzerts war dann auch Ruben am Banjo im Fahrwasser des Lyrisch-narrativen zu erleben.
Beide Instrumente, Banjo und Baritongitarre, sind Exoten im Jazz. Das Banjo steht vor allem für Blue Grass und Country; die Baritongitarre wird selten von Jazzern, von Pat Metheny und Snarky Puppy mal abgesehen, in die Musik eingebunden. Die Basis für Songs wie „Finco“, „Forch“ - da kam das in Ansätzen wie eine Mandola bzw. Mandoline, aber nicht klassisch gespielte Banjo zur Geltung -, legte Ruben mit seiner geerdeten Gitarre, während es an Thomas war mit Saxofon und Altklarinette die floralen Umspielungen zu präsentieren. Das galt auch für die Kompositionen „Down“ und „Allemaal goed“.
Bisweilen verbreitete das Duo einen warmen Sirocco im Saal des Flagey. Es war Musik, die Balsam auf der Seele zu sein schien und Kontemplation heraufbeschwor. Manchmal meinte man, akustisch einen Bachlauf rinnen zu hören, wenn Saxofon und Gitarre beinahe verschmolzen agierten. Gab es da dank Loops nicht auch hier und da kleine Kaskaden? Sanfte Windströme entließ Thomas Jillings aus dem Trichter seines Holzbläsers, sorgte für thermische Aufwinde, bei denen man an schwebende Gleitflieger denken konnte.
Die Altklarinette traf im Weiteren aufs Banjo. Beide schienen einen samtenen Klangteppich auszubreiten. Bisweilen klang es auch nach zweistimmigem Gesang in einem irischen Pub. Zugleich waren klassische Anklänge nicht zu überhören. Von der Klangtiefe und -weite konnte man sich an Paul Horns Aufnahmen in der Pyramide von Gizeh erinnert fühlen. Wie muss das Duo wohl klingen, wenn sie in einer gotischen Kapelle spielen würden oder eben in der Pyramide von Gizeh?
Für einige Momente drangen sphärische Klangwellen ans Ohr der Zuhörer. Gewiss gab es Redundanzen, gewiss war das Duo nicht ausschließlich akustisch unterwegs, doch im Gegensatz zu Jozef Dumoulins Vortrag am Vortage war die Musik handgemacht, nicht als Kopfgeburt dargebracht, sondern als Seelenmusik, ohne dass das Banjo in Country abglitt und die Klarinette in Klezmer.
Urbane Klänge von Urbex
Urbanes Leben bündelte sich bei Urbex. Windverwerfungen trafen auf Schellenbaumklang. Schlegel fuhren auf Becken nieder, als sollte das Publikum wie bei der Sinfonie mit dem Paukenschlag aufgeweckt werden. Wie ein einsamer Rufer inmitten des alltäglichen Wahnsinns klang es, wenn Jean Paul Estiévernart seinen Blechbläser an die Lippen führte. Er schien Aufbruch, Aufschrei und Aufruhr ebenso zu verkünden wie im nächsten Moment Stillstand im Stop and Go. Antoine Pierre unterstützte den Trompeter dabei durch den wohl dosierten Einsatz von Hi-Hat, Toms und Basstrommel.
Irgendwie war das Schlagwerk eingebunden in das urbane Auf und Ab, zeigte sich der Schlagzeuger mit seinem Rhythmusinstrument auch aufgeregt und ungestüm. Zudem war auffallend, dass es ein spontanes Zuspiel zwischen Fabian Fiorini und Antoine Pierre gab. Sie schienen sich die Rollen zuzuweisen, das Tempo und das Energiepotential zu variieren.
Erst beim zweiten Stück betraten die Saxofonisten des Oktetts und der Perkussionist Frédéric Malempré, seine Rasseln ständig schüttelnd, die Bühne. Dabei intervenierte Fiorini mit sprunghaften Tastensetzungen. Zudem griff er auch mal in den offenen Flügel und „präparierte“ so sein Instrument. Im weiteren Verlauf vermeinte man, Funk gemischt mit Latin Fever zu hören. Dazu trug auch Toine Thys am Saxofon nicht unwesentlich bei. Untergründig hörte man ein wenig Oye, aber nicht Oye como va – das war auch gut so.
Stimmengewaltiges wurde von Urbex auf alle Fälle geboten, nicht nur bei „Metropolitan Adventure“, auch auf der bei Igloo erschienenen Scheibe der Band zu hören. Fusion war ebenso mit im Spiel wie eine Prise Soul und Funk. Das musikalische Geschenkpäckchen, das Urbex ins Flagey mitgebracht hatte, war stimmig und rund.
Im Geiste von Sun Ra: Manu Hermia Trio
Um es gleich vorwegzunehmen: Für den Berichterstatter stellte das Konzert mit Manuel Hermia (saxophones), Valentin Ceccaldi (cello) und Sylvain Darrifourcq (drums) State of the Art dar. Herausragend war das, was das Trio in der Kürze der Zeit im Geiste von Coltrane und Sun Ra dem Publikum zu Gehör brachte. Brillant war das als Wettstreit mit Augenzwinkern angelegte gemeinsame Agieren von Ceccaldi und Darrifourcq. Beide grinsten sich dabei stets an, und dann begann ein Furioso zwischen einem sehr rhythmisch orientierten Cello und dem Schlagwerk. Für diese Momente schien der Saxofonist Manu Hermia – er gewann übrigens den diesjährigen mit 10000 Euro dotierten SABAM Jazzpreis – außen vor zu sein.
Das Publikum wurde von dem Feuer, das die drei Musiker entzündet, in den Bann gezogen. Da gab es Wirrwarr, Aufbruch, Krawall und Rabatz dargereicht Es gab Kontroverse und Dialog zu erleben. Melodiöse Linien wurden fragmentiert und wieder zusammengefügt. Widerborstige Reden wurden geführt, lauschte man Manu Hermia.
Alle drei Musiker unterstrichen, dass Jazz auch Körperarbeit ist, vor allem Free Jazz. Die Saiten des Cellos wurden trommelnden Händen überantwortet, derweil Manu Hermia in die Knie ging und seinem Saxofon alles abverlangte.
Tieftöniger Schwall traf auf Höhenflüge, die Manu Hermia nur dank seines Sopransaxofons unternehmen konnte. Bisweilen hörte sich der Saxofonist auch so an, als würde er Schlangen beschwören, sprich es gab orientalisch beeinflusste Passagen.
Das Cello wurde gezupft, aber auch geschlagen, um ein Zwiegespräch mit dem Schlagwerk auf Augenhöhe zu führen. Rockige Elemente wurden obendrein eingestreut, vor allem dann wenn das Cello sich scheinbar in einen E-Bass verwandelte und von harten Beats begleitet wurde.
Pop bitte: Dans Dans
Vorweg sei gesagt, dass bezüglich der Bühnenpräsenz Keith Richard, Jimi Hendrix und Ron Wood wohl sehr stolz auf Bert Dockx, den Gitarristen des Trios Dans Dans, hätten sein können, hätten sie ihn im Theater Marni gesehen. Da wurde herumgehopst und der Kniefall eingebaut. Allerdings fehlte der Spagat oder gar das Spiel der Saiten mit der Zunge, so wie einst von Jimi Hendrix. Es tanzten die Finger von einem Knopf eines Effektgeräts zu einem anderen. Ohne diese Wunder der modernen Technologie glaubt Dans Dans augenscheinlich nicht auskommen zu können.
Derartige Einlagen lenkten zumindest den Berichterstatter zeitweilig davon ab, den verlaufenden Wasserfarben der Klangpalette zu folgen. Nun gut, Bert Dockx (guitar, cassettes), Frederic Jacques (bass, synths) und Steven Cassiers (drums, percussion, synths) scheinen ihre musikalische Superwelle gefunden zu haben, auf der sie surfen können.
Während des Showcases hatte man den Eindruck, das Dreigestirn sei bewusst eklektisch ausgerichtet. Man meinte, The Ventures ebenso zu hören wie Filmmusik zu Streifen von Sergio Leone. Das Schlagrepertoire des Schlagzeuger war m. E. eher begrenzt, was wohl auch erwünscht war. Ohne Effekt und auch Effekthaschereien schien die Musik nicht zu funktionieren. Dass der Bassist zeitweilig mit dem Rücken zum Publikum stand, mag jeder auf seine Weise interpretieren.
Im Verlauf des Konzerts stellte sich die Frage, was denn Dans Dans Innovatives einbringen, wenn sie spielen. Wer Jeff Beck hören will, tut das. Das gleiche gilt für Eric Clapton oder Spyra Gyra. So schien für Dans Dans denn nur die Nische eklektischen Pop-Rocks offen zu stehen. Dabei gab es hier und da bei Dans Dans auch Anklänge an die Musik der Shadows. Nun gut, wenn es denn gefällt!
Da jaulte, wummert und wimmert es während des Konzerts, wurden die Gehörknöchelchen aufs Äußerte gereizt. Motto schien Folgendes zu sein: Shake your bump and dance through the night, so als gäbe es kein Morgen. Da ist auf die Generation U25 zielgerichtet und angemessen, wenn das im Fokus von Dans Dans steht.
Die notwendigen Attitüden und Klangformungen bringt das Dreigestirn Bert Dockx, Frederic Jacques und Steven Cassiers sicherlich mit. Die Frage stellt sich nur, ob das auf lange Sicht trägt und nicht schnell ein Ende findet. Dancefloor-kompatibel scheint die Musik auf alle Fälle.
Ohne Effekte scheint es nicht zu gehen: Steiger
Dass es auch bei dem eigentlich klassisch aufgestellten Trio Steiger nicht ohne Effekte ging, erlebten die Anwesenden am Sonntagvormittag im Theater Marni. Zu hören war eine Band, die unlängst beim Gent Jazz Festival den Nachwuchspreis gewann. Das Trio setzt sich aus Gilles Vandecaveye (piano/keys), Kobe Boon (double bass) und Simon Raman (drums) zusammen. Sie ließen ihre Musik sprechen und verzichteten ansonsten auf die Kommunikation mit dem Publikum, sieht man von der Vorstellung der Band einmal ab. Nun ja, das ist auch ein Konzept, das man verfolgen kann.
Über weite Strecken agierte Steiger im kammermusikalischen Fahrwasser, mal mehr, mal weniger lyrisch ausgerichtet. Es gab Momente, da meinte man, Anlehnungen an Sibelius und Chopin zu vernehmen. Tonale Schummerungen und kristalline Ausfällungen waren Teil des Vortrags. Auf Dramatisierungen wurde nicht verzichtet. Kleine Höhen wurden angesteuert, aber hohe Klippen nicht bezwungen. Aufbrausend war die Musik teilweise, auch das Bild des Malstroms schien für einen Teil des musikalischen Flusses durchaus zu passen.
Die Linienführung gehörte dem Pianisten, derweil der Drummer mit einfachem Spiel das Trio zusammenhielt. Dass der Wohlklang des Tastenkörpers durch Effekte verfremdet wurde, mag dem einen gefallen, einem anderen aber überhaupt nicht.
Weiche Tastenfolgen trafen auf Redundanzen, wie man sie von Techno her kennt. Wiederholungsschleifen, auch auf dem Keyboard, waren eingeplant. Mal klang es ein wenig nach Orgel, mal nach Drehleier. Irgendwie wartet man als Zuhörer auf einen unerwarteten Höhepunkt, einen Aufschwung und einen Abschwung, doch im Einerlei der Effekte schien dies weitgehend unterzugehen.
Die Drei vom Trio Grande
25 Jahre gemeinsame Bühnenauftritte und fünf gemeinsame Alben, das verbindet den Multi-Instrumentalisten Laurent Dehors (saxophones, clarinets, harmonica), den zu unerwarteten szenischen Eskapaden neigenden Michel Massot (euphonium, sousaphone, trombone) und Michel Debrulle (drums, grosse caisse de Binche). Sie stellten zum Abschluss des Jazz Meetings einige Songs aus ihrem bei De Werf Records erschienenen Album „Trois Mousquetaires“ vor. Die Firmierung als kleinste Big Band der Welt kann nur als ironische Randnotiz und nicht als ernsthaft begriffen werden. Ja, Dehors beherrscht viele Instrumente, aber das macht alleine keine Big Band aus.
Der Vortrag war m. E. eine Mischung aus Vaudeville und Cabaret. Dazu trug vor allem auch die Clownerie von Michel Massot bei, der zeitweilig über die Bühne tanzte und sich mit neckischer Geste den roten Dämpfer der Posaune auf das Haupthaar hielt.
Die Anmutung von volkstümlichen Couplets, von Ragtime und New Orleans Jazz schien überaus charakteristisch für die Darbietung, bei der auch ein französisches Chanson eingebunden war. Ohne Frage, Unterhaltungswert war gegeben, u. a. beim Dialog zwischen Posaune und Klarinette, die sich sanftmütig und beschwingt gaben und auch hier und da in Quack-Quack verfielen. Marschmusik und Volksweisen schienen durch einen Teil der Songs durch.
Auf rhythmisches Wechselspiel verstanden sich Dehors und Massot ganz meisterlich, während im Hintergrund ein stoisches Schlagwerk zu vernehmen war. Auch Elemente des Free Jazz hatte das Trio Grande in seinem musikalischen Tornister mitgebracht. Dabei traf das erdige Sousafon ungezügelt auf das feinsinnige Spiel auf den Trommeln.
Nachhaltig in Erinnerung blieb dem Berichterstatter das variantenreiche Spiel auf der Maultrommel, das Dehors ohne Frage beherrschte. Das für die Maultrommel so typische surrende Schwirren traf auf den Tiefklang des Sousafons, durchaus ein eher ungewöhnliches Klangerlebnis. Aber Klamauk war auch immer mit im Spiel. Das sollte nicht der Fokus eines musikalischen Vortrags sein, oder?
Zum Schluss:
Zieht man ein Fazit der drei Tage von Brüssel, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass Jazz in Belgien rein männlich ist. Nicht eine einzige Jazzmusikerin war auf den Bühnen der beiden Spielstätten zu sehen und zu hören! Gibt es sie wirklich nicht? Agieren sie im Verborgenen? Das muss nachhaltig bezweifelt werden. Es muss doch mehr Jazz-Musikerinnen als Natalie Loriers in Flandern, Brüssel und Wallonien geben? Ich rede nicht der Quote das Wort. Dennoch: Sollten sich die Veranstalter nicht ein Projekt wie SOFIA (Support Of Female Improvising Artists) von Nicole Johänntgen zum Vorbild nehmen und gezielt Jazzmusikerinnen ansprechen, die bisher nicht etabliert sind?
Das Segment Nu Jazz wie es sich im Nu Jazz Project von François Legrain widerspiegelt, war ebenso wenig auf dem Meeting zu hören wie andere Segmente der Gegenwartsmusik wie freie Improvisation, sieht man einmal von Jozef Dumoulin ab.
Die Gruppe U30 war auf Seiten der Musiker bestens vertreten, was ja auch im Sinne von Nachwuchsförderungen und Eröffnung von Spielmöglichkeiten für aufstrebende Musiker zu begrüßen ist. Was aber ist mit Musikern wie Ivan Paduart, Michel Herr, Quentin Dujardin, Christophe Devisscher, Jeroen van Herzeele, Ben Sluijs oder Bands wie Llop und Jens Maurits Orchestra? Die getroffene Auswahl für das Meeting muss daher aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden.
© Fotos/Text: ferdinand dupuis-panther
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