Abenteuerliche Entdeckungstouren in Hannover
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Kurz und knapp war die Konzertankündigung:
„Ensemble Discoveries mit der Stereo-Instrumentenbesetzung:
zwei Celli, zwei Bässe und eine Posaune, der wilde tiefe
Klang in verschiedenen Schichten, Klangtexturen,
kombinierte Kompositionen machen die ganze Musik
brillant und unvergesslich.“
Discoveries – what?
Im Vorwege des Konzerts ergab sich die Möglichkeit, mit Matthias Müller und Hui-Chun Lin ein Gespräch zu führen, das nachstehend sinngemäß wiedergegeben wird: Auf die Frage nach dem Namen der Band wurde von beiden Musikern darauf verwiesen, dass es wirklich um musikalisches Forschen und Entdecken von Klangflächen und neuen Improvisationskonzepten geht. Das sollte der Bandname ausdrücken. Der Begriff Ensemble verweist in diesem Zusammenhang auf den Charakter des Quintetts mit Bezügen zu kammermusikalischen Ensembles.
Geleitet werde das Ensemble von Ideen zu Landschaften, aber auch zur Tiefsee und deren Lebewesen. Dabei, so Matthias Müller, ist es sehr interessant, auf welche Weise Lin Kompositionen einbringt. Das bedeutet, stark mit Bildern zu arbeiten. Das habe er, Matthias Müller, in anderen Zusammenhängen noch nicht erlebt. Es ist, so Müller, deshalb ein Ensemble, weil jeder etwas einbringt und jeder eine eigene Herangehensweise hat. Freie Improvisation, so unterstrichen beide Musiker, ist der rote Faden des Ensembles. “Die Kompositionen sind organisierte Improvisationen oder Improvisationen mit gewissen Vorgaben. Die Improvisation ist auf jeden Fall die Basis der Band.“ (M. Müller)
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Wie kam es zu der doch ungewöhnlichen Besetzung des Ensembles, dem zu einem Streichensemble nur noch eine Viola und eine Geige fehlen? Eigentlich war das ein Zufall, so Lin. Zudem habe sie, Lin, Musiker zu Sessions für Konzerte eingeladen und auf diesem Wege auch die jetzige Besetzung gefunden. Insbesondere das Arbeiten im tiefen Frequenzbereich sei etwas, das sie sehr interessant finde. Nach einem zweiten Posaunisten habe man, trotz der Stereoinstrumentierung allerdings nicht gesucht. Gut für Matthias Müller, der somit ein Alleinstellungsmerkmal hat. Dieser unterstrich im weiteren Gespräch, dass er es genieße, sich in diesem tieftönigen Klangbett zu bewegen.
Matthias Müller erläuterte im Weiteren, dass er eine sehr große Tenorposaune spiele, mit der man auch in einem klassischen Orchester spielen könne. Die Qualität des Ensembles liegt in den tiefen Frequenzen, die man körperlich spüren kann, so Müller. Das beeinflusst das eigene Spiel. „Es fühlt sich wahnsinnig gut an. Haha. Es brummt alles.“ (M. Müller) Auffallend ist bei dem Ensemble u. a. das Fehlen eines Schlagzeugs. Welchen Einfluss hat das? In den Kompositionen, so Müller, gebe es keine rhythmischen Vorgaben. Jeder muss Rhythmus und Groove für sich selbst tragen, sodass jeder die Verantwortung habe, rhythmische Funktionen zu übernehmen. Ist ein klassisches Harmonieinstrument denn verzichtbar? „Wir haben vier Streichinstrumente, und wenn davon jeder einen unterschiedlichen Ton spielt, dann haben wir ja schon eine Menge an harmonischem Material. Wenn eines nicht fehlt, dann ist es ein Harmonieinstrument. … Das Feld ist sehr offen und sehr weit“ (M. Müller)
Offshore-Erlebnis mit Klängen
Unmittelbar vor dem Konzertbeginn ließ die aus Taiwan stammende und nunmehr in Berlin ansässige Cellistin Hui-Chun Lin wissen, dass sie uns mit ihren Mitmusikern auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise mitnehmen werde. Ein Offshore-Erlebnis stehe an. Vielleicht würden wir gemeinsam auf der improvisierten Klangreise in die Tiefsee abtauchen, einen Riesenkalmar entdecken oder aber sprudelnde Meeresvulkane erleben. Und schließlich sei vielleicht auch eine Begegnung mit einem Pottwal auf der Jagd nach einem Riesentintenfisch Teil der Entdeckungstour. Man solle einfach neugierig sein, was da komme. Vielmehr gab die Cellistin über die Kompositionen nicht preis.
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Der Bassist Klaus Kürvers eröffnete die Abenteuerreise in der Tonhalle. Mit seinem Bogen führte er kreisende Bewegungen aus, die die tieftönigen Saiten zum leichten Schwingen brachten. Der Posaunist Matthias Müller stieg anschließend ins Geschehen ein. Ihn vernahm man so, als würde er fernab agieren. War er schon mit einem U-Boot in die Tiefsee abgetaucht oder präparierte er sich für den Tauchgang an Land? Auf dem Hals eines der beiden Cellos bewegten sich die Finger auf und ab. Quietschendes war zu vernehmen. Sollten die Anwesenden dabei an verzerrte Walgesänge denken? Klopfgeräusche auf seinem Bass fügte Ulf Mengersen der Klangmelange hinzu. Dass ein Cello auch auf dessen Korpus bespielt werden kann, unterstrich Hui-Chun Lin in ihrem folgenden Klangbeitrag. Sie wischte mit ihren Händen über die Decke ihres Cellos, das leicht flirrte. Ein Rrr und ein Tschtsch sowie ein Pftt-Pftt war vonseiten des Posaunisten zu hören. Einer der Bassisten agierte zudem jenseits des Bassstegs und in einer Art Zwiesprache mit einem der beiden Cellisten. Der Bass war mittels eines Stabes präpariert, der zwischen den Saiten „verwebt“ war.
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Atemströme drangen an unsere Ohren. Zugleich vernahmen wir ein Piff und Tiff, die der Posaunist seinem Horn entlockte, ohne das Zugrohr dafür weit auszuziehen. Den Klang loser, hängender Tür- oder Fensterscharniere, die sich im Windspiel bewegen, erzeugte Uygur Vural auf seinem Saiteninstrument, rein analog und ohne elektronische Effekte. Dies galt im Übrigen für alle Musiker, deren Credo analog lautete. Was war das denn? Die Anwesenden trauten ihren Augen nicht, als die Cellistin zwei aufgesteckte Flummi-Bälle über die Decke des Cellokorpus gleiten ließ und dadurch eine dunkle Klangfärbung erzeugte. Tutti war auch angesagt, um den tiefen Wohlklang des Ensembles zur vollständigen Geltung zu bringen. Wie tief waren wir da im Meer? Auf 1000 Meter oder doch mehr?
Inmitten eines „Tieftonbeckens“
Eingebettet in dieses „Tieftonbecken“ der Streicher, agierte der Posaunist, der sich mit seiner Tenorposaune den tiefen Frequenzen annäherte. Doch er spielte eben keine Bassposaune, sondern Tenorposaune, die durchaus auch röchelnd in höhere Frequenzen als die Streicher abglitt.
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Bei dem anschließenden Bogenspiel der vier Streicher musste man wohl an einen Malstrom denken oder aber zumindest an eine aufgewühlte See mit hohen Wogen, wie sie von Courbet so meisterlich in einem Gemälde erfasst wurden. Und wurde die Posaune dann nicht nur zu einem Atemrohr, sondern auch zu einem Sprachrohr? Ja, Matthias Müller schien in sein Mundstück zu sprechen, eine Spielart, die der eine oder andere auch von Albert Mangelsdorff her kannte.
Das Klangkontinuum wurde fortgesetzt, ohne erkennbare Zäsuren oder gar Kapitel. Die Stücke schienen wie die Farbtupfer in einem Aquarellgemälde ineinander zu verschwimmen. Windrauschen traf im Weiteren auf das Bogenspiel auf der Seitenwand des Cellos. Dezent wurden die Basssaiten mit dem Bogen geschlagen. Der Posaunist hingegen ließ Windverwehungen entstehen, so konnte man als Zuhörer meinen. Die Ausflüge in die Sphären der Tieftönigkeit fanden ihre Fortsetzung, auch wenn Uygur Vural sein Cello schwungvoll drehte, um auf der Rückwand seines Instruments den Bogen zu bewegen. Solos im klassischen Sinne gab es eigentlich nicht, aber Zwiegespräche zwischen den Musikern, vor allem zwischen den Cellisten. Dazu gesellte sich tiefes röhrendes, gurgelndes und röchelndes Posaunengebläse.
Eine Bürste ist auch essenziell
Dass man auch mit einer Handbürste auf dem Bass „Obertöne“ hörbar machen kann, unterstrich Klaus Kürvers im Fortgang der Klanginszenierung. Uygur Vural hingegen verwandelte sein Cello in ein Perkussionsinstrument. Seine Finger klopften in kurzen Abständen auf den Korpus des Cellos. Derweil vereinten sich das Spiel des Bassisten Ulf Mengersen und das der Cellistin. So entstand für einen kurzen Moment ein kammermusikalischer Exkurs. Begleitet wurde dies durch ein flirrendes Horn in den Händen von Matthias Müller.
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„Gestrichene Aufschwünge des Klangs“ entlockte die Cellistin ihrem Streichinstrument. Dabei bewegte sie die Finger der Griffhand kaum, sodass der Eindruck einer wiederkehrenden bzw. endlosen Klangschleife entstand. Nach und nach wurde das Tempo intensiver, auch der Klangrausch nahm zu. Es schien zu brodeln. Wurde da ein speiender Unterwasservulkan in Aktion eingefangen?
Ein knisternder zusammengedrückter Plastikbecher im Trichter der Posaune war ein eher unerwarteter Klangzusatz. Überhaupt waren die Klangsequenzen nicht erahnbar oder vorhersehbar. Alles schien sich nur im Moment abzuspielen und für den Moment gedacht zu sein. Nur gelegentlich konnte man dem flinken Fingerspiel der Cellistin folgen, akustisch vergleichbar mit einer Laufbewegung mit schwerem Schuhwerk auf Kopfsteinpflaster. Dass „Gitarrenriffs“ auch auf einem Cello möglich sind, stellte der aus Kappadokien stammende Uygur Vural unter Beweis. Verhallende Klänge waren im Nachgang der Cellistin zu verdanken, die ihre Handflächen bis zum Ende des Instrumentenhalses führte. Doch auch ein nervöser Bogenstrich war kurz danach auszumachen. Dabei flammte dann mal für einen Augenblick eine melodiöse Linie auf.
Motorflieger im Sturzflug?
Irgendwann war dann der klangliche Tiefgang vorüber. Eine kurze Pause stand an, ehe das 2. Set begann. Nur kurz ging die Cellistin, von der auch die Kompositionsideen stammen auf das ein, was zu erwarten war. Sie versprach ein Segelerlebnis mit Monsterwellen unweit des Übergangs von Pazifik und Atlantik und einen Landausflug zu den Felskaminen Kappadokiens. Zugleich redete die Cellistin Hui-Chun Lin von den Ideen und Konzepten, die die Musik lenken und einen bildlichen Rahmen bilden. Das spiegelte sich im ersten Teil ja in den Tiefseeepisoden wider, die im zweiten Teil eine Fortsetzung fanden
Unwetter und Sturm erlebten wir. Doch der Duktus des zweiten Sets im Vergleich zum ersten änderte sich wenig. Perkussives auf den Cellos und der Klang eines präparierten Basses, den Klaus Kürvers zum Vibrieren brachte, drang an unsere Ohren. Ob das nun freie Improvisation war oder gar, wie eine der Anwesenden meinte, Neue Musik, soll mal dahingestellt bleiben. Visuelles wurde auch geboten: Bediente sich Klaus Klüvers neben dem Bogen einer Bogensäge oder nur einer Art Bogen, den man in der Balkanfolklore bzw. nordafrikanischen Musik antrifft? Und noch etwas war als Klangeindruck gegenüber dem ersten Konzertteil neu: Motorengeräusche, die Matthias Müller einbrachte. Man hatte den Eindruck, man befinde sich auf einem Modellflugzeugplatz und über diesem kreisten die Modellpropellermaschinen, mal lauter und mal leiser, mal im Loop und mal im Steigflug. Unterstützt wurde Müller auf seinen „Freiflügen“ von Uygur Vural auf dem Cello. Irgendwann setzte sich das Bild fest, es würden sich zwei Kunstflieger am Himmel mit ihren Kunststückchen gegenseitig die Schau stehlen.
Wäscheklammern auf die Cellosaiten zu stecken, war kein Tabu. Sie dienten auch dem Perkussiven. Auffallend war, dass im zweiten Konzertteil Raum für distinkte Solos geschaffen wurden. Und ganz zum Schluss lauschte man dann für wenige Takte türkischer Kunstmusik bzw. Folklore. Damit endete eine von Tiefenklang durchzogene Melange des Improvisierten.
© fotos anne panther/ferdinand dupuis-panther – text ferdinand dupuis-panther
Info
Line-up
Ulf Mengersen – Bass
Klaus Kürvers – Bass
Matthias Müller – Posaune
Hui-Chun Lin – Cello
Uygur Vural – Cello
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