Zum 14. Mal fand die „Leistungsschau des Jazz“ in Bremer Messehallen statt. 784 Bewerbungen für die sogenannten Showcases gab es. Ausgewählt wurden 40 Bands. Diese Auserwählten hatten sich in ein zeitliches und damit auch inhaltliches Korsett einzupassen. Unbarmherzig zählten die auf den jeweiligen Bühnen installierten Uhren die Minuten und Sekunden des jeweiligen Auftritts. Spontanität ade! Improvisation, gar freie Improvisation war nicht vorgesehen. Geschlossene Konzepte wurden gefordert. Und nach dreißig Minuten war stets Schluss.
Wer sich nicht an den gesetzten Rahmen hält, dem wird der Strom entzogen, sprich die Beleuchtung geht aus und die Mikrofone und Monitoren verstummen. Er ist schon sehr nachdenkenswert, warum sich gerade Jazzmusiker derart in eine Präsentationsform zwängen lassen, dass schlicht nur die Darreichung von musikalischem Fast Food möglich ist. Jazz als eine musikalische Kunstform, die Raum der Entfaltung, des Spontanen, des Intimen, des Zipps und Zapps erfordert, wird mit einem solchen Ansatz konterkariert. Entwicklung von Spielfreude wird gehemmt. Die Uhr tickt mit. Ansagen der Kompositionen werden zu Schnellsprechübungen oder unterbleiben. Die Vorstellung der Band und Bandgeschichte ist kaum möglich. Die Uhr tickt. Balladen zu spielen, birgt ein Risiko: Denn ja, die Uhr tickt.
100 Konzert – und?
Doch die jazzahead! nahm auch in diesem Jahr ihren Lauf. Öffentliche Debatten über das Auswahlverfahren oder die Zusammensetzung der Jury hat es nach meinem Kenntnisstand nicht gegeben. Das veröffentlichte Zahlenwerk unterstreicht aus Sicht der Organisatoren den Erfolg, auch den kommerziellen Erfolg. So nahmen im Vorjahr mehr als 3200 Aussteller an der jazzahead! teil. 17000 Besucher zählte die Messe. Über 100 Konzerte, u. a. im Rahmen der jazzahead! CLUBNIGHT, sind auch in diesem Jahr zu hören gewesen. Doch wer hört sich schon 100 Konzerte in drei Tagen an? Es sind Konzerte, die vielfach zu dem Zeitpunkt abbrachen, als die Musiker sich gerade warm gespielt hatten. Ja, die Uhr tickt.
Norwegen, Dänemark, Island, Belgien …
Besucher hatten auch in diesem Jahr die Qual der Wahl, ob nun das Espen Berg Trio sowie das Hedvig Mollestad Trio – diese Band stellte das diesjährige Partnerland Norwegen vor – oder der Soloauftritt von Elliot Galvin Präferenz sein sollte. „Afrikanisches Klanggebräu“ aus Jazz und Soul gab es zu hören, wenn man denn den Auftritt von Ajoyo nicht verpasste. Als Beitrag Dänemarks kam der Auftritt des Trios um die japanische Pianistin Makkiko Hirabayashi daher und zwar nur deshalb, weil die drei Musikerinnen alle in Kopenhagen leben, auch die bekannte Schlagzeugerin Marilyn Mazur. MCD III aus Belgien, ein Trio um den Saxofonisten Mathias De Craene, verließ den Pfad des klassischen Trios und bediente sich der Dienste von gleich zwei Schlagzeugern – und das zur nächtlichen Stunde.
Dass auch in Island der Jazz zuhause ist, unterstrichen der us-amerikanische, in Reykjavík lebende Drummer Scott McLemore und das Sunna Gunnlaugs Trio erweitert um den finnischen Trompeter Verneri Pohjola. Letzterer kommt aus Finnland. Bei der German Jazz Expo war unter anderem „Der Weise Panda“ zuhören, eine Band rund um den Kölner Schlagzeuger Jo Beyer, der der Kopf der Band Jo ist und gemeinsam mit dem Kölner Saxofonisten und Klarinettisten Sven Decker im Juli4tet zu erleben ist. Der in den Niederlande lebende Cellist Jörg Brinkmann trat mit der deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander auf. Die Aufzählung lässt sich bis zur Band Nr. 40 fortsetzen. Auch die fragmentierte Aufzählung macht deutlich, dass ein bunter Mix von Ansätzen des Jazz von heute im Angebotskorb war. Nur, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte, bleibt nebulös, oder?
Weiblicher – na und?
Jünger, weiblicher, multinationaler – so lautete eine der Überschriften zu den Showcases. Doch kann das Geschlecht maßgeblich für die Auswahl von Musikern sein? Zeigt sich nicht, dass eine Debatte über Jazz zwingend notwendig ist, auch und gerade im Hinblick auf die Präsenz von Musikerinnen. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, dass Musikerinnen wie Esperanza Spalding als sogenannte Leuchttürme herhalten müssen. Doch wie viele Musikerinnen, vor allem Instrumentalistinnen, gibt es eigentlich, die sich erfolgreich behauptet haben, über die geschrieben und gesprochen wird, die bei bekannten Labels wie ECM oder ACT produziert und vertrieben werden? Bisweilen beschleicht den Berichterstatter der Verdacht, dass Musikerinnen bei Veranstaltungen wie der jazzahead! als Feigenblatt herhalten, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass Jazz männlich dominiert wird.
Aus der Vielzahl der Showcases hat sich der Berichterstatter zum einen das luxemburgische Trio Reis/Demuth/Wiltgen und zum anderen die Flat Earth Society aus Belgien, kurz auch FES genannt, ausgewählt
Reis/Demuth/Wiltgen - epischer Jazz oder was?
Das nicht nur in der Namensgebung gleichberechtigte Trio aus Luxemburg existiert bereits seit 1998. Die melodischen Liniendes Trios sind eingängig, strahlen vor frühlingshaftem Grün und Lavendel. Ansteckend sind die Grooves und vielschichtige Rhythmen, teilweise meint man gar, House habe das Trio auch inspiriert, zumindest in Fragen der Rhythmik. Insgesamt präsentierte das Trio sechs Kompositionen. „Freedom Trail“ - damit wurde das Konzert eröffnet -, „The story of you and me“, Where the heart beats“ und der Schlussakkord „Cross Country“ stammen aus der Feder des Pianisten Michel Reis. „Small Talk“ und „Floppy Disk“ steuerte der Drummer Paul Wiltgen bei.
Vom Freiheitspfad über Small Talk zu einer Ballade
Mit beinahe monoton zu bezeichnenden Pattern eröffnete Paul Wiltgen den „Freiheitspfad“, so die Übersetzung von „Freedom Trail“. Es ist eine Komposition, die auch auf dem letzten Album des Trios zu finden ist. Das Album trägt im übrigen den Titel „Once In A Blue Moon“.
Anfänglich schien der Pianist auch in redundanter Formensprache zu verharren. Daraus entwickelte sich lieblicher Klangfluss, der gängiger Popmusik und Songs eines Singers/Songwriters schon recht nahe kam. Die Basshand des Pianisten Michel Reis spielte eine eher untergeordnete Rolle. Diskante Klangstrudel wurden mit der rechten Hand gespielt. Sie waren vorherrschend und wurden von intensivem Beckengewirbel und Hi-Hat-Geflirre begleitet. Hin und wieder konnte man beim Zuhören denken, es solle ein Roadmovie vertont werden, als würden Bilder von einer Fahrt mit einem Straßenkreuzer durch San Francisco musikalisch begleitet werden.
„Klangliche Sprungprozessionen“ entwickelten sich vor den Augen des Publikums, als „Small Talk“ auf dem Programm stand. Teilweise waren auch leicht düstere Einfärbungen zu vernehmen. Blechrauschen breitete sich aus. Auch wenn der Bassist aus der Regiesicht im Fokus stand, so war er doch nicht dominant, sondern eher verhalten in seinem Duktus. Bei nachfolgendem Zuhören traten Assoziationen zur einer Fahrt mit einer schnaufenden Dampflok auf, insbesondere als Paul Wiltgen ganz nachhaltig die Bleche täschelte.
Danach war Zeit für eine Ballade, auch wenn es eigentlich keine Zeit für ein derartig ausladendes Stück gab, wie Michel Reis in einer kurzen Anmerkung einwarf. Ein wenig betrübt und melancholisch war das zu kennzeichnen, was wir bei „The story of you and me“ zu hören bekamen. Sehnsucht und Verzweiflung schienen sich in den Melodielinien zu kreuzen. Besen wischten und strichen über Felle. Becken wurden nur kurz angetippt. Sacht kam der Bass daher. Auch Kristallines konnten wir ausmachen, sobald wir uns mehr und mehr auf das Spiel von Michel Reis konzentrierten.
Floppy Disk und querfeldein
Und die rote LED-Anzeige signalisierte: 15:21:48, 15:21:50 ...15 …. Die Zeit ging dahin! 15:23:02 und Applaus. Die Zeit ging weiterhin dahin! Das zeitliche Korsett zwang das Trio dazu, ohne richtige Pause, ohne Momente der Besinnung, weiter zu spielen. Paul Wiltgen kümmerte sich beim nächsten Stück um den richtigen „Herzschlag“. Rollende Basslinien drangen ans Ohr der Zuhörer. Dramatische Klanggeschiebe trafen auf folkloristische Attitüde. Klänge wurden pulverisiert, schienen wie der Abgang einer Lawine!
Das Stück „Floppy Disk“ ließ aufgrund der hopsenden Linien an einen springenden Flummi-Ball denken und nicht an ein Speichermittel, das vor Jahrzehnten hochmodern war und jetzt vom USB-Stick ins abseits geschickt wurde. Anmutig waren die melodischen Stränge, die Michel Reis gekonnt miteinander verband. War da nicht auch ein wenig Erroll Garner und Bill Evans mit im Spiel? „Entgleisungen“ wünschte sich der eine oder andere. Doch die Zeit ließ das Ausschweifen nicht zu. Die rote LED-Anzeige leuchtete unbarmherzig.
Zum Schluss ging es querfeldein. So zumindest verhieß es der Titel „Cross Country“. Wilde Klang-Galoppaden waren vorhanden. 16:33:55, 16:34:00 … Die Klänge verflogen. Die Zeit verging. Ruhige Passagen gab es auch und somit Momente der Kontemplation, wenn auch unter Zeitvorgaben. Gerade im letzten Stück des Konzerts zeigte sich die Bandbreite im Spiel des Trios, gab es doch auch Ekstatisches, so als würde es auf die Zielgerade gehen und der Triumph zu feiern sein. Und dann war Schluss.
FES – ein Jubiläum ist zu feiern.
Unter der Leitung des Klarinettisten Peter Vermeersch existiert dieses Großensemble seit zwei Jahrzehnten. Das wird in diesem Jahr mit ausgedehnten Tourneen nach Kanada und in die USA gefeiert. Auch auf dem diesjährigen Moers-Festival ist die Band präsent. Auf der jazzahead! heizte die Band richtig ein und musste doch wie alle anderen nach 30 Minuten die Bühne räumen. Welch ein Jammer!
„Triptit“ war der Eröffnungstitel, den das vielköpfige Orchester darbot. Anschließend ging es um die Sichtweise einer Fliegenklatsche („Swatter Perspective“) - ein Schelm, wer da nicht an Surreales denkt. Gen Osten trieb es uns mit dem Ensemble, als „Drtkova Polevka“ auf dem Programm stand. Schließlich erlebten die Anwesenden noch „Summertime“ und „La Malle-Valise Del‘Heimtlos du Sleeping“ - welch komplexer Titel und gewiss nur mit einem Augenzwinkern zu begreifen.
Der Klangkörper von FES ist mächtig, numerisch ebenso mächtig wie stimmlich. Entfaltet wurde ein klanglicher Lavastrom; eruptive Klangfontänen zeigten sich vor den Augen des Publikums. Turbulenzen entwickelten sich. Klangwalzen kamen ins Rotieren. Widerstreit zwischen Tuba und der von Bart Maris gespielten Trompete stellte sich ein. Die Posaunisten mischten sich auch ein und nahmen Partei. Angesichts der Klangwucht waren die Klarinetten kaum zu hören, als „Tripit“ seinen Fortgang nahm. Auch Wim Segers, einer der Köpfe von belgischen Jazz-Rock-Combo Compro Oro, war eher eine Randfigur im Rahmen der ausufernden Klangmalerei, die sich aller nur denkbarer Farben bemächtigte.
Das Klangleben einer Fliegenklatsche
Dunkles sphärisches Rauschen war zu Beginn von „Swatter Perspective“ bestimmend. So mag es sich auch anhören, wenn ein Dampfkessel gehörig unter Druck steht. Am Bass ließ Kristof Roseeuw - er ist auch Teil des FUNDAMENT Ensembles – die Saiten dunkel schwingen. Von Hall getragen meldete sich das Vibrafon zum vibrierenden Rhodes. Die Tubas ergriffen lautstark aus dem Hintergrund das Wort. Posaune und Klarinette schienen im Gleichlauf die Schläge der Fliegenklatsche nachzuahmen. Die „Lichtgestalten“ an der Lichtorgel meinte sich ins Geschehen einmischen zu müssen. Wechselspiele von Farben lenkten vom musikalischen Fluss ab. Man musste sich also fokussieren, um dem brillanten Trompetensolo von Pauline Leblond zu folgen, ehe klangliche Gemengelage angesagt war.
Waren da beim nächsten Stück nicht auch Hupe und Triangel zu hören? Anflüge einer klassischen Big Band flammten auf und verschwanden. Irgendwie meinte man, das Ensemble würde zum verqueren Lindy Hop aufspielen. John Zorn tauchte im Klangbild ebenso wie ein gewissen Surf Sound auf. Ohne Klezmer-Bezug meldeten sich die Klarinetten zu Wort. Eher ging es um die „Stunde der Balkanova“, die wir miterleben durften. Und war das denn gerade? Schlagermusik aus den 1950er Jahren, im Stil von „Weißer Sand und ein verlorenes Land ...“, oder? Mittelalterlich angehaucht schienen weitere Sequenzen. - 18:25:25, 18:25:26 ...-,
Und zum Schluss schien die Halle erfüllt vom Trällern und Schilpen von Piepmätzen. Dazu gab es pulsierende Gitarrenriffs – dank an Frederik Leroux-Roels. Tieftönig und samt bereicherte eine der beiden Posaunen das Klanggeschehen. Wie auch in allen anderen Stücke sorgte Teun Verbruggen versiert und mit Übersicht für rhythmische Maßeinheiten, mal sehr behutsam, mal durchaus den Drive setzend. - 18:26:57 … Die Zeitnahme war unbestechlich. Die Musiker des Ensembles erwiesen sich zum wiederholten Mal als „moderne Derwische im Rockgewand“. Großes Kino, das abrupt endete. Leider. Wann, so fragt man sich, wird das Zeitkorsett mal endlich aufgeschnürt!
Text und Fotos © ferdinand dupuis-panther – Fotos und Text sind nicht public commons!
Informationen
https://jazzahead.de/de/
Musiker
Reis/Demuth/Wiltgen
Line-Up:
Michel Reis (p), Marc Demuth (db), Paul Wiltgen (dr)
FES
Line-Up:
Wim Segers (vib), Michel Mast (ts), Martin Melia Marganon (cl), Kristof Roseeuw (db), Peter Vandenberghe (p,key), David De Vrieze (tb), Teun Verbruggen (dr, perc), Frederik Leroux-Roels (g), Marc Meeuwissen (tb), Benjamin Boutreur (as), Pauline Leblond (tpt), Berlinde Deman (tba), Bruno Vansina (bar, fl), Peter Vermeersch (cl), Bart Maris (tpt)
https://fes.be/
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