Wellness und Tobias Herold
W
Lyrik
Als Abschlussarbeit des Studiums an der bekannten Folkwang Universität der Künste in Essen legten der Kontrabassklarinettist und Baritonsaxofonist Florian Walter und seine Bandkollegen von „Wellness“, Julius Gabriel an Sopran- und Tenorsaxofon sowie der Schlagzeuger Fabian Jung das vorliegende Album vor, in dem sie Lyrik von Tobias Herold mit freiem Jazz verknüpfen. Dabei folgt Wellness einer überaus deutschen Tradition, die beispielsweise mit dem Namen des unterdessen verstorbenen Lyrikers Peter Rühmkorf in Verbindung zu bringen ist. Von ihm sind nachstehende Alben bekannt: Kein Apolloprogramm für Lyrik, [mit Michael Naura, Wolfgang Schlüter, Eberhard Weber], 1976 [ECM 2305801 SP] sowie Phönix voran, [mit Michael Naura, Wolfgang Schlüter, Leszek Zadlo], 1978 [ECM 2305802 SP].
Nein nicht Arno Schmidt, nicht Georg Kreisler, nicht irgendein Dada-Literat, Ernst Jandl oder Gottfried Benn haben sich die Drei von Wellness ausgesucht, sondern aktuelle Lyrik von Tobias Herold, die im Berliner Elfenbein-Verlag verlegt wurde. Übrigens: Wellness hat unterdessen mit der „Kreislermaschine“ eine weitere Symbiose zwischen Jazz und Lyrik erarbeitet.
Will man die Einspielung besprechen, bedarf es einer „neuen Sprache“, einer lautmalerischen Sprache, die sich mit der vorgetragenen Lyrik verbinden lässt. Die freie Musik von Wellness muss man als Kontrapunkte und Zäsuren zu den gesprochenen Texten verstehen, vielleicht auch als untergründige Kommentare. Eingespielt wurden zehn Titel, darunter auch „Ritalin“, mit 0:23 das kürzeste Stück des Albums. „Studie 3“ und „Studie 2“ finden wir auf dem Album, allerdings suchen wir „Studie 1“ vergeblich. Ist diese vielleicht verloren gegangen?
Schon die Titel des Albums wie „Fleck“ oder „Partielle Erkenntnis“ erscheinen ungewöhnlich, wenn nicht gar rätselhaft. Bisweilen beziehen sich die Titel wie bei „Shibuya“ auf Herolds Lyrik, aus den Bänden „Kruste“ und „Ausfahrt“.
„Er ist krank, er ist böse, er findet sich, Schneemann“ - dergestalt formuliert Tobias Herold in der „Readymade Suite“, und dazu gibt es Quietschen, Knarren, Knurren, Fiepen und noch mehr Geräuscherausch. – Klopfklopfklopf, Terötteröt, Flüsterflüster, Wisperwisper und zu diesen Klangsequenzen hört man „Farbenfrohe Blume für düstere Tage ...“. Brummbrumm, Wirbelwirbel, Knurrknurr, Trrdrrtrrdrr, Beröberöbero.
„Über Sibirien denkst du plötzlich, was du über Sibirien denken sollst ...“ - das sind Worte, die wir bei dem Titel „Shibuya“ aufnehmen. Dazu gibt es von Wellness Windrauschen, kurzes Fiepen, dumpfes gehemmtes Röhren, abgehackte Töne wie Dada oder Dadada. „Haben Schmetterlinge die Kirschblüte zerschmettert.“ Tobias Herold erhebt seine Stimme, trägt vor, unbeirrt vom Geräuschklang. Lyrik und Musik erscheinen wie kleinste Fragmente, die mühselig zu einem Ganzen werden sollen. Doch Fragmente bleiben Fragmente, auch bei Wellness. Hier Lyrik und dort „tonaler Rausch“ – oder auch Rauschen.
„Nach was hatte ich Tokyo durchforstet ...“. Finger streichen über das Fell der Trommel, Fiepfiepfiep und ein Verhallen. „Das Zwitschern der Vögel folgt ...“. Als Zuhörer haben wir hier nun doch den Faden verloren. Schon sind wir beim nächsten Stück namens „Ungetüm“. Ein wahres Monster erscheint in unserer Fantasie, lauschen wir dem Klang, der entsteht, wenn ein Stick mit dem Kopf übers Becken gezogen wird, mal langsam, mal schnell, mal mehr, mal weniger schrill im Ton. Stakkatoschnalzen, Tschilpen, Gezwitscher – und dann ist plötzlich Ruhe und das Ungeheuer verschwunden.
Auch in den übrigen Einspielungen erleben wir schräge Klangmodule und die beinahe mit monotoner Stimme vorgetragenen Texte von Tobias Herold. Bei dem Stück „Fleck“ meint man, Einzeltöne würden sich überschlagen. Dazu vernimmt man Klickklack, Klickklack – wie bei umfallenden Bauklötzen. Atem streicht über die Mundstücke der Saxofone. Oder ist es nur eines?. Metall tönt, Rauschen folgt. Der Fleck ist am Ende weg.
Derartige Musik muss man live hören. Man muss das Agieren der Musiker auf der Bühne erleben. Musik ist Interaktion, besonders freie Musik und freie Improvisation. Also Wellness, die nächste Bühne wartet.
© ferdinand dupuis-panther
Informationen
Florian Walter
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