Frauenpower im Jazz #1
Various
Berthold Records / Pussy Empire Recordings / Pyroclastic Records
Lisa Wilhelm – Potpourri (Quoted not stolen) / Sir Bradley – During My Lunch Break / Patricia Brennan – More Touch
Foto © Annie Boedt
Lisa Wilhelm – Potpourri (Quoted not stolen)
Berthold Records
Wir hören das Debütalbum des Quartetts der jungen, Stuttgarter Schlagzeugerin Lisa Wilhelm. Sie wurde unlängst mit dem Solistenpreis des Jungen Deutschen Jazzpreises ausgezeichnet. An ihrer Seiten hören Lukas Wögler am Tenor-Saxofon, Moritz Langmaier am Klavier und Franz Blumenthal am Kontrabass kreiert sie mit ihren Eigenkompositionen eine musikalische Melange aus Hochgefühl und Wehmut, so ist zu lesen. Als Zusatz erfahren wir beim Lesen der Liner-Notes, dass das Album unter anderem von Filmmusik, mit der Lisa Wilhelm aufgewachsen ist. Über die Kompositionen sagt die Schlagzeugerin: „Es sind Zitate aus Filmen, die mir gut gefallen und die mir im Kopf geblieben sind. Da kam mir die Idee, sie in der Art eines Potpourris zu vermischen.“ Wer nicht gerade Cineast oder häufiger Kinogänger ist, wird die zitierten Filme eher weniger kennen, so auch nicht den Film „Ewige Jugend“ („Youth“) von Paolo Sorrentino, den Wilhelm zu ihren Lieblings-Regisseuren zählt. Auch „Garden State“ von Zach Braff dürfte nur „Eingeweihten“ bekannt sein. Wahrscheinlich ist das auch zweitrangig, denn die Titel der Stücke, so die Schlagzeugerin, sind erst nach Vollendung der Kompositionsskizzen entstanden.
Aufmacher des Albums ist „They`re falling in love“. Dabei fallen die verhaltenrn und gedämpften Klänge auf, die man anfänglich vernimmt. Auch das Saxofon röhrt nicht, sondern klingt zerbrechlich und wie eine Mischung aus Klarinette und C-Querflöte. Bilder von dahin ziehenden Wolkenbändern stellen sich ein. Auch an die Silhouette von kreuzenden Seglern auf einem Großsee stellen sich ein, dabei die Segel im Wind flatternd. Gemalt wird eine Klanglandschaft, die wie eine Idylle anmutet. Das Kontemplative überwiegt, auch wenn im Verlauf des Stücks durchaus das Lyrische aufgegeben wird. Pianist und auch Saxofonist formen dann nach und nach Klangwalzen. Dabei gibt der Pianist dann auch sein perlendes Tastenspiel für einen Moment auf, um dann im nächsten erneut in dieses einzutauchen.
„The Guardian of the Infinite Abyss“ folgt auf den Eröffnungstitel und stammt aus dem Film „Garden State“ von Zach Braff. „Ein großartiger Film, bei dem das Zitat sehr gut zur Komposition passt. Sie erweckt den Eindruck, sich ins Dunkel zu begeben, obwohl der Film selbst gar nicht düster ist. Da lebt ein Mann in einem Hausboot am Rande eines Steinbruchs und jemand sagt zu ihm: `Du bist der Hüter des riesigen Abgrunds`. Bezogen auf mein Schlagzeugspiel ist dies das vielseitigste Stück, weil man unterschiedliche Rhythmen und Schichten hört. Vielleicht bin ich ja die Hüterin des Rhythmus“, so ein O-Ton von Wilhelm. Doch zunächst einmal hat der Bass das Wort, der sich in seinen Saiten-Klängen behäbig breit macht. Im Hintergrund agiert die Schlagzeugerin sehr behutsam, scheint eher marginal, lauscht man doch nachfolgenden auf die sich ausbreitenden Klang-Schwünge des Saxofonisten. Dieser lässt Klangfetzen erklingen, die wie Sturmwolken vom Wind getrieben werden. Nicht zu überhören ist das zarte Ticktick der Schlagzeugerin und auch das distinkte Blech-Flirren. Doch als das ist hintergründig, derweil der Pianist seine Akzentuierungen setzt, auch mit der Basshand. Erst in der zweiten Hälfte des Vortrags vernimmt man eher rollenden Schlagzeug-Einsatz als Beginn eines Solos mit Klickklick und Klackklack sowie kristallinen Diskant-Klängen des Pianos. Zudem lauschen wir den teilweise pastellfarbenen Klangzeichnungen des Saxofonisten, der eher im Fokus steht als die Schlagzeugerin, die im Hintergrund für allerlei aufstäubende Wirbel sorgt.
„Only Assholes go to Rome“ bezieht sich auf einen weiteren Film, nämlich auf den Sorrentino-Film „Hand of God“ („Die Hand Gottes“). Schlägel bringen zu Beginn die Felle ins Schwingen. Dann, ja dann erhebt sich die weiche Saxofonstimme, durchaus wehmütig klingend. Ihr folgt der Hörer über weite Strecken. Und auch der Pianist mit seinen Tastenstrudeln fordert die Aufmerksamkeit, sodass der Schlagzeugerin eher eine Nebenrolle zufällt. Gewiss, sie ist Teil eines Ganzen, drängt sich aber nicht durch fulminante Solos auf. Und am Ende schließt das Album mit einer Art Abendlied namens „But They Don’t Know Yet Serenade“.
© fdp 2023
Sir Bradley – During My Lunch Break
Pussy Empire Recordings
Gewiss muss man sich bei diesem Musikerinnenkollektiv auch mit dem Bandnamen und den Namen für das Label beschäftigen. Der Bandname bezieht sich auf einen im belgischen Gent geborenen, britischen Radrennfahrer namens Bradley Wiggins, der fünffacher Olympiasieger, Gewinner der Tour de France 2012 und achtmaliger Weltmeister ist. Nun ja, für eine Ensemble aus Musikerinnen einen solchen Namen zu wählen, ist schon irritierend. Wenn dann die eine oder andere Musikerin eine Leidenschaft für Radrennfahren hat, hätte man ja auch unter weiblichen Radrennfahrerinnen gewiss jemanden gefunden, z. B. Jeannie Longo. Aber gab es nicht eine Begegnung einer der Musikerinnen mit Bradley bei einer Radsporturlaub? Jedenfalls kursiert eine solche Geschichte.
Der Label-Name irritiert gleichfalls, bedenkt man die Bandbreite dessen, was der englische Begriff „Pussy“ in Deutsch bedeutet, eben nicht nur Katze, sondern auch Mieze, Vulva, Waschlappen und Schlappschwanz. Möglicherweise ist aber auch dieser Name mit Kalkül und Sinn für Provokation gewählt worden. Dankenswerter Weise sind die Texte, die die Vokalistin Catharina Boutari vorträgt, im Booklet abgedruckt worden. Übrigens erscheint die Verpackung der CD wie eine Hardcover-Buchausgabe und nicht wie billiges Paperback. Signalisiert dies das Setzen auf Qualität und auf den Wert von Dauerhaftigkeit?
Das Ensemble von sieben Musikern besteht aus der Bandleaderin und Bassistin Maria Rothfuchs, die Sir Bradley 2018 gegründet hat und gemeinsam mit Doro Offermann (Tenorsaxophon), Annette Kayser (Schlagzeug) und Lovis Determann (Gitarre) zunächst als Quartett auftrat. Nach und nach kamen Sonja Beeh (Posaune), Magdalena Abrams (Bassklarinette) und Catharina Boutari (Gesang) hinzu. In der „Gebrauchsanweisung“ zum Album finden sich folgende Bemerkungen: Eine Frau liegt rauchend vor einem Kartenspiel. Lässig. Sinnlich. Mit gelebtem Leben im Gesicht. Es ist genau diese coole Freigeistigkeit, die den Sound der Hamburger Jazzband Sir Bradley durchzieht. Und das Cover-Foto zu ihrem Debütalbum „During My Lunch Break‟ strahlt bereits sehr viel von der vielschichtigen Energie aus, die dieses charakterstarke Septett ausmacht.“
Die Musik der Band changiert zwischen Modern Jazz, Big Band, Jazz Rock und Straight ahead, mal abgesehen von kurzen Momenten mit „Punkausreißern“ – siehe „Yellow Catwalk“. Ohne Frage ist das Septett ein gewaltiger Klangkörper, der sich allen Facetten zeigt und vor allem in der Bläsersetzung sehr überzeugend ist. Das gilt vor allem für die Posaunistin und Saxofonistin, die ganz wesentliche Anteile an den Färbungen des Klangs haben. Hinzukommen Texte, die provokant, aber vor allem voller Ironie und Sarkasmus sind. Hierbei sei unter anderem an „Spring is Ready“ zu denken: „ … My third love offers me a fitted kitchen with white doors and blue frames …“ Das klingt wie der Hausfrauentraum der 1950er Jahre, als der Ehemann bestimmte, ob die Frau zuhause bleiben muss oder arbeiten darf. Und auch das Eröffnungsstück „Schatz im Silbersee“ gliche wahrlich einem Couplet, würde es mit deutschem Text gesungen. Karl May, der da besungen wird, lebte ja in geklauten Wirklichkeiten und hatte eine blühende Fantasie. So kann das Frauenkollektiv auch Folgendes singen: „… if Karl May would have met us/I bet he’d changed his point of view/he’d wirtten about the innocence of childhood and the love of two girls …“. Tatsächlich durchziehen ja, seine Fantasiegeschichten vom Wilden Westen die Blutsbrüderschaft zwischen Winnetou and Old Shatterhand.
Die Umdeutung des Karl May Romans „Schatz im Silbersee“ steht am Beginn des aktuellen Albums. Die einführende Passage, die die Posaunistin gestaltet, erinnert ein wenig an Filmmusik. Vokales wird hinzugesetzt und bildet eine weitere Stimme jenseits von lyrischen Textzeilen. Durchaus in der Tradition von Vocal Jazz geht es dann weiter. An die Ladys in Jazz wie Billy Holiday, Nina Simone, Sarah Vaughn und andere ist dabei auch zu denken. Gleichzeitig kommt dem Hörer allerdings auch gelegentlich Amy Winehouse in den Sinn, oder? Und obendrein gibt es eine eher auf Funk gestimmte Gitarristin zu vernehmen. Außerdem überzieht das Stück zudem eine Glasur von ansprechender Popmusik. Aufhorchen lässt die Posaunistin schließlich mit ihrem kehligen, wabernden Klang, dem sie ihrem Instrument entlockt.
Bei „Suntrip“ ist im Text von Liebe und verschmähter Liebe die Rede. Tieftöniges ist zu erleben. Darüber legt sich die helle Lautmalerei der Vokalistin, schwebend, dahin gleitend. Danach vernehmen wir versammeltes Gebläse und feine Klangintarsien der Gitarristin. Zudem gilt es ein Posaunensolo zu genießen, das sich in den Färbungen zwischen Olivgrün, Sandfarben und Umbra zeigt. Mit „Moky Joky“ erleben wir ein Stück mit sehr viel „Swing“ und auch mit einer Note Jive. Zugleich gewinnt man den Eindruck, eine kleine Big Band ist musikalisch unterwegs. Zu Höchstform läuft die Vokalistin in ihren Scat Vocals auf, auch von dem präsentierten bestechend Tonumfang. Wer da hier und da an Ella Fitzgeralds Scat Vocals denken muss, liegt nicht gänzlich daneben, oder? Großartig ist das Tenorsaxofon-Solo, das auf den Punkt gesetzt wurde. Insgesamt wird die Zeit lebendig, als die großen Jazzorchester die Popmusik der 40er und 50er Jahre zu Gehör brachten und als zu Jazz getanzt wurde. Den Album-Abschluss bildet „Vinicunca“ mit einer nachhaltigen Intro durch die Bassklarinettistin und einem eher düsteren Klangbild. Und auch im Weiteren drängt sich das Bild von Herbststimmung und Herbstlandschaft auf. Doch sobald die Gitarristin in die Saiten greift, schweben die dunklen Herbstwolken von dannen und zartes Himmelblau macht sich breit.
© fdp 2023
www.pussy-empire.de
www.sirbradley.de
Patricia Brennan – More Touch
Pyroclastic Records
Neben der Vibrafonistin Patricia Brennan hören wir auf dem aktuellen Album den Drummer Marcus Gilmore, Percussionist Mauricio Herrera und Bassist Kim Cass. Im „Waschzettel“ zum Album lesen wir unter anderem: „Brennan’s own virtuosic yet boundless approach to the vibes and marimba takes the percussive and melodic aspects of the instruments into uncharted territory via her use of electronics, adding further possibilities to an already expansive ensemble. The result is a compellingly unpredictable venture, where reggae soca grooves buoy intricate, angular melodies; warm, ringing tones skitter into electronic glitchiness and give way to redolent, Xenakis-inspired silences; the infectious beat of Cuban son spirals into higher-order geometric designs; and mesmerizing Batá drums become shrouded in resplendent, borealis-like swathes of color.“
Aufmacher des Albums ist der Track „Unquiet Respect“. Mit dramatisch und temporeichen perkussives Spiel macht das Stück auf. In den Fluss der Perkussionisten, der einen schnellen Trab in Klang-Module umsetzt, fällt Patricia Brennan mit dem Schlägel-Spiel auf den Klangstäben ein. Wie an einer Perlenschnur reihen sich die angespielten Klangsilben auf. Bisweilen gibt es auch Klangverzerrungen zu vernehmen. Temporeich geht es auch weiter. Man meint vor dem geistigen Augen, Menschen hastig durch Straßen oder Treppenläufe eilen zu sehen. Manche nehmen wohl auch gleich zwei Stufen auf einmal. Auch das Bild eines Schnellzuges blitzt auf, der in stetem Tempo durch die Landschaft rast. Das Rattern der Räder setzt der Perkussionist klanglich in Szene, so könnte man meinen. Dieser bestimmt nach und nach mehr das Stück, derweil sich die Vibrafonistin den Hintergrund der musikalischen Inszenierung zurückzieht und die kristallinen Klänge über das stete Rhythmusspiel von Mauricio Herrera setzt.
Die Langsamkeit und das Behäbige werden in „More Touch“ mit und ohne Effekte zelebriert. Sphärisches drängt ans Ohr des Hörers. Dieser meint vielleicht gar, hier werde ein Science-Fiction-Film mit Klangschnipsel untermalt. Momente des On und des Off wechseln sich ab. Zwischenzeitlich werden auch Frequenzen hörbar, die bei der Suche von Landwellen- und Kurzwellensendern einst zu erleben waren. Es ist eine gewisse kristalline Klang-Kakophonie auszumachen, ehe Patricia Brennan mit ihrem Instrument eine Klanggouache malt, mit weichen, samtenen Tonfolgen. Glockenschläge treffen nachfolgend auf Bassschritte. Ist da nicht auch im Verlauf des Vortrags ein Marimbaphon zu hören, dass sich nur schwerlich gegen die perkussiven Windhosen durchsetzen kann? An den beinahe eruptiven Verwirbelungen ist auch der Bass beteiligt, der ja sonst eher erdig und bodenständig daherkommt. Losgelöstheit wohnt dem Instrument weniger inne.
Um Raum und Zeit geht es wohl in „Space For Hour“, einem Track, der auch die ruhigen Moment kennt. Zart und verhalten ist Patricia Brennan an ihrem Schlagwerk zugange. Sie erzeugt zu Beginn des Stücks einen „hochflorigen Klangteppich“, in den man versinken kann. Die Vibrafonistin ist in diesem Stück über weiter Strecken gänzlich solistisch unterwegs. Wollte man ein Bild einführen, um den Klangfluss zu beschreiben, so mag man sich das kabbellige Meer mit eng verlaufenden, kleinen Wellen vorstellen. Bleche rascheln ab und an. In großen Schritten fallen die Schlägel auf die Klangstäbe und lassen diese kurzzeitig schwirren. Dann vernimmt man obendrein ein perkussives Damdamdam und Tacketack. Sphärisches flirrt intensiv im Klang-Raum. Eine Kurzpause ist ins Stück eingeflochten. Danach werden kristalline und diskante Klangmuster hörbar. Sprunghaft scheinen die rhythmischen Untermalungen. Man hat dabei den Eindruck, der Perkussionist würde eine Damburka oder Tabla bespielen. Nachfolgend reihen sich Klangschnispel aneinander, kurz von einander abgesetzt. Kaskaden ergießen sich außerdem, reißen nicht ab, fallen in die Tiefe, so suggeriert es das Spiel der Vibrafonistin.
Heulende und jaulende Klänge dringen an unser Ohr, wenn „The Woman Who Weeps“ auf dem Programm steht. Neben dem Jaulen und Heulen bemerken wir beim Zuhören eine Basslinie jenseits der Dunkeltönigkeit. Beinahe übermächtig sind jedoch die eingeblendeten Effekte. Da ist dann Elektronika sehr nahe und auch ein wenig Ambient Music. Im Übrigen ist außerdem ein Shaker mit im Spiel, um die Klangnuancierungen zu erweitern. Oder sind es „Bündel von Klappern“? Glockentöne, verwischt und verzerrt, sind in der Ferne auszumachen – und dann ist der Schlussakkord gesetzt. Ohne Effekte kommt auch der Track „Robbin“ nicht aus. Das, was wir als Effekte wahrnehmen, klingt verschiedentlich wie der Gesang von Delfinen und Walen. Feinstes Blechschwirren breitet sich aus und dringt ans Ohr der Zuhörer. Wüsste man es nicht besser, so könnte man auch denken, dass der Track aus digitalisierten Samples besteht. Passend erscheint die flirrende und schwirrende Musik, um Aufnahmen von tanzenden grünlichen Polarlichtern zu untermalen. Schlussendlich heißt es „And There Was Light“, eine im Vergleich zu anderen Tracks sehr kurze Klangimpression als Abschluss des Albums.
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