Vincent Courtois: West
V
La Buissonne
Mit „West“ liegt das jüngste Album des Cellisten Vincent Courtois vor. Dabei sind an seiner Seite der aus Berlin stammende, aber schon lange in Frankreich residierende Daniel Erdmann (tenor saxophone), Robin Fincker (clarinet, tenor saxophone) und Benjamin Moussay (piano, harpsichord, celesta, toy piano) zu hören. Anlässlich des Auftritts von Courtois beim JOE Festival 2016 hatte ich auch die Gelegenheit mit ihm über dieses Album zu reden.
Der Westen, das ist für Courtois das Land jenseits des Horizonts, das Neuland, die Herausforderung zur Entdeckung von Neuem. Stets, so Courtois, waren Menschen unterwegs gen Westen, wie heute auch, wenn Menschen aus dem Vorderen Orient über das Mittelmeer nach Westen strömen. Immer geschieht das mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. „Go West“ hieß mal eine bekannte Zigarettenmarke, die dann in „West“ umgetauft wurde, nachdem klar wurde, dass mit „go west“ auch sterben, den Löffel abgeben und über den Deich gehen gemeint ist. „West“ ist also nicht immer positiv besetzt. „West“ bedeutet für Courtois auch das Meer, der Ozean mit all den Tücken der Natur. Er selbst sieht sich als Fischer und Seemann, dem es gelingt so manche Untiefe zu umschiffen, wie er das mir gegenüber im Interview andeutete.
Auf dem vorliegenden Album konnte sich Vincent Courtois in vielfältigen Rollen zeigen, solistisch wie auch als Ensemblemitglied. Neben dem Cello spielte er auch das guide chant, ein kleines Harmonium mit dem Klang eines Akkordeons. Dieses Instrument nutzte er für die Einspielung „Nowhere“, das er auch als „Now here“ und „Nowhere“, also „heute hier“ und „nirgendwo“ verstanden haben möchte. Komponiert wurde der Titel, so verriet es mir Courtois, für seinen Sohn, der als Filmemacher unterwegs ist.
Dass das Wasser ein vorherrschendes Thema ist, unterstreichen Titel wie „So much water so close to home“ und „1852 mètres plus tard“. Bei Letzterem wird Bezug auf die nautische Meile genommen. Auch das Stück „Sémaphore“ bezieht sich auf die Seefahrt. Damit ist ein Zeichen aus dem Winkeralphabet gemeint, mit dem man sich mittels Flaggen von Schiff zu Schiff verständigte. Mit der Durchsetzung des Sprechfunks verlor dieses Kommunikationsmittel total an Bedeutung.
Keine Frage, wer von Europa nach Amerika aufbricht, der muss über den Atlantik, also über's Wasser. Dass Courtois von Wasser nahe am Zuhause spricht, hängt mit seinem zeitweiligen Lebensort, der Bretagne, zusammen. Also hören wir mal ein bisschen in Courtois „Wassermusik“ hinein: Zunächst hat man eher den Eindruck, das Cello sei eigentlich eine besondere Gitarre, die da Courtois anschlägt. In der Regelmäßigkeit der Tonfolgen, vermag man den Wellenschlag des Meeres zu vernehmen. Überlagert wird der Gitarrensound von dem gestrichenen Cello – dank sei wohl einem Sampling oder Loops. Soll das gestrichene Cello die Untiefen, sprich die Gefahren, signalisieren? Irgendwie klingt die Komposition „So much water so close to home“ auch sehr nach der Rockmusik, die beispielsweise für Keith Emerson und Nice typisch war.
Ganz anders erscheint das Klangbild in der Langfassung von „1852 Meter später“. In diesem solistischen Vortrag vermittelt uns Courtois eher den Eindruck, er spiele eine arabische Laute, ohne sein Cello mit technologischem Schnickschnack manipuliert zu haben. Er scheint sich ganz auf seine Spieltechnik zu verlassen. Nicht frei von dem „orientalischen Klangeindruck“ fällt es schwer, die nautische Meile dazu in Bezug zu setzen. Will uns Courtois da etwa in die aktuellen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer einbinden? Doch Courtois ist ja ein Meister der überraschenden Wendungen, wie man bald bemerkt, da er zur Mitte des Stücks den Bogen in die Hand nimmt und dann in geradezu klassischer Manier sein Saiteninstrument zum Klingen bringt. Pablo Casals lässt grüßen, oder? Mit dem Bogenstrich wechselt auch die Stimmung des Stücks, das nun beinahe einem Requiem nahekommt.
Ist es ein Akkordeon, das da seine Stimme zum hochgestimmten Klavier erhebt? Nein, in „Nowhere“ spielt Courtois ein guide chante, ein Harmonium mit dem Klangbild eines Akkordeons. Benjamin Moussay begleitet ihn dabei am Klavier mit langsam dahinfließenden Tonfolgen. Beide scheinen einen lyrischen Kokon zu spinnen. Dabei scheint Courtois eine Art Basslinie zu setzen, über die Moussay phrasiert. Insgesamt hat man den Eindruck von Weite, aber ganz und gar nicht im Sinne des sogenannten norwegischen „Fjord-Sounds“, wie ihn der Trompeter Mathias Eick meisterlich beherrscht. Außerdem drängt sich das Bild auf, dass Courtois und Moussay Schritt für Schritt neue Welten entdecken, vorsichtig und mit Bedacht.
Bei „West“ ist man anfänglich über die Klangfülle jenseits des gestrichenen Cellos irritiert. Es klingt ein wenig wie Kalimba, Kora, Marimbafon und Balafon. Doch all diese Instrumente spielt keiner der aufgeführten Musiker. Ist es vielleicht ein Kinderpiano? Wohl kaum, denn einen Tasteninstrumentenklang vernimmt man auch nicht. Moussay spielt neben dem Klavier auch Celesta, ein Instrument mit Glockenspielklang, und außerdem Cembalo auf einigen der Einspielungen. Handelt es sich also um ein moduliertes Cembalo, was wir vernehmen, wenn wir nach Westen ziehen und neue Ufer betreten? Eher ist es wohl ein präpariertes Klavier, das sprudelnde Töne erzeugt, während Courtois die lang gestrichenen Celloklänge beifügt. Springfluten und kabbeliges Wasser scheinen sich musikalisch zu vereinen. Dann, ja dann hören wir einen Klang wie den eines Vibrafons. Das dürfte aber das Celesta sein. Es klingt nicht so hart und metallisch wie das Vibrafon, sondern eher weich. Immer dichter werden die Tonfolgen, sodass sich die Vorstellung von dicht auf dicht folgenden kurzen Wellen aufdrängt. Zugleich scheinen wir über diesen zu schweben, wenn man dem Spiel des Cellos nachgeht. Während des Hörens mag übrigens der eine oder andere an die grandiose Einspielung von „Tubular Bells“ denken. Der Berichterstatter jedenfalls konnte diese Assoziation nicht verdrängen.
Es klingt so, als würde eine Geige gestrichen, wenn „Sémaphore“ beginnt, doch es ist das Cello. Beim Zuhören drängt sich das Bild der geschwenkten Signalfahnen auf: Hoch und runter, rechts und links. Wieder ist Courtois solistisch unterwegs. Doch auch Daniel Erdmann und Robin Fincker haben ihren Anteil an dem aktuellen Album. Man höre nur mal „Freaks“.
Von Ton A bis Z ist dies ein sehr gelungenes, konzeptionell sehr überzeugendes Album, das dem Melodischen stets nachgeht. Gegenwärtig ist das im Jazz eher die Ausnahme als die Regel. Freies Spiel dominiert und dabei spielen wohlklingende Melodien immer weniger eine Rolle. Rabatz statt Melodie scheint das Motto. Umso mehr muss man Courtois für seine „kammermusikalische Darbietung“ danken. Wohlklang in hektischen Zeiten wird unbedingt gebraucht, finde ich!
Text © ferdinand dupuis-panther
Informationen
Label
La Buissonne
http://www.labuisssonne.com
Musiker
Vincent Courtois
https://vcourtois.wordpress.com/about/
Audio
https://vcourtois.wordpress.com/audio/
https://soundcloud.com/vincent-courtois-jazz
Video
https://vcourtois.wordpress.com/video/
Interview mit Daniel Erdmann
CD Review
http://www.jazzhalo.be/reviews/cd-reviews/d/daniel-erdmann-samuel-rohrer-frank-moebus-vincent-courtois-ten-songs-about-real-utopia/
Interview
http://www.jazzhalo.be/interviews/daniel-erdmann-im-gespraech-mit-saxofonist-und-gruender-der-jazzband-das-kapital/
Interview mit Vincent Courtois
http://www.jazzhalo.be/interviews/vincent-courtois-interview-with-the-french-cello-player/