Phronesis: Parallax
P
Edition Records, EDN 1070
Der Bandname bezieht sich auf das altgriechische Wort für Klugheit und Weisheit. Der Begriff hatte zudem eine besondere Bedeutung in der philosophischen Debatte der klassischen Antike. Wieso die Band, bestehend aus dem Bassisten Jasper Høiby, dem Drummer Anton Eger und dem Pianisten Ivo Neame, sich so einen Namen gegeben hat, müsste man die Mitglieder des Trios fragen. Der „Waschzettel“ des Labels gibt darüber keine Auskunft.
Das Album eröffnet mit „67000 MPH“ – geht es da um Meilen pro Stunde? – geht weiter mit „Stillness“ und einem „Drachen für Seamus“, ehe wir eine Mondfahrt ohne Peterchen antreten – „A Silver Moon“ steht auf dem Programm – und dann schließlich in „Rabat“ ankommen. Sind wir dabei auf Malta oder doch in Marokko? Zumindest sind wir in der Vorstadt, denn das bedeutet der Name, wenn man ihn aus dem Arabischen übersetzt. Mit dem Album präsentiert das anglo-skandinavische Trio sein sechstes Album und das Vierte für Edition Records. Aufgenommen wurde das Album innerhalb eines Tages in den berühmten Londoner Abbey Road Studios.
Anton Eger wurde in Norwegen geboren und studierte in Kopenhagen. Ivo Neame stammt aus Großbritannien und studierte an der Royal Academy of Music. Sowohl Anton Eger als auch Ivo Neame haben mit dem sehr hoch gehandelten, aus Trondheim stammenden Saxofonisten Marius Neset zusammengespielt. Der aus Kopenhagen gebürtige und an der Royal Academy of Music ausgebildete Bassist Jasper Høiby ist der geistige Vater von Phronesis, einer Band, die 2005 von ihm ins Leben gerufen wurde.
Wer von klassischen Klaviertrios nicht genug bekommen kann, der muss unbedingt die Ohren spitzen, wenn Phronesis erklingt. Das ist eine energetisch aufgeladene, elektrisierende Musik, die das anglo-skandinavische Trio präsentiert. Die Funken sprühen, die Klangfälle rauschen und schießen in die Tiefe, die kaskadierenden Klänge brodeln. Lyrisches Spiel, das so viele aktuelle Jazztrios mit klassischer Besetzung bevorzugen, fehlt weitgehend.
Im Spiel sind Aufbruch und Unruhe eingeschlossen. Neue Ufer werden erobert. Das Trio ist wirklich ein Trio gleichberechtigter Musiker, die jeder zu den Klangfarben aus der bunten Harmoniepalette beitragen. Nein, der Pianist steht nicht allein auf weiter Flur, und die beiden anderen Musiker sind nur Staffage im Hintergrund. Anton Eger am Schlagzeug mischt sich hörbar und mit kurzen Schlagzeugattacken ein, wenn Ivo Neame sein tonales Feuerwerk versprüht. Das ist bereits bei „67000 MPH“ der Fall. Dabei mag dahingestellt sein, wer da mit dieser Geschwindigkeit abhebt. Auf alle Fälle nehmen wir ein Tosen war. Wir sehen den urbanen Dschungel, das dichte Gewusel von Menschen und Autos. Beim Zuhören muss man an die schlaflose Stadt denken. Es geht immer vorwärts, so signalisiert es nicht nur der Pianist Ivo Neame. Das Tempo ist hoch. Dazu gemischt wird eine gewisse Aggressivität. Vorwärts, vorwärts, immer vorwärts scheint das Motto, in das auch der Bassist Jasper Høiby einstimmt, auch wenn der Pianist in vielen Passagen sehr in der Basslinie schwelgt.
„Stillness“ ist wider Erwarten nicht still. Das Schlagwerk rumort. Das Piano setzt tröpfchenweise Klangnoten ab. Der Bass brummt sich durchs Leben. Von Stille oder Stillstand hat das Stück gar nichts. Es ist sicherlich verhaltener angelegt als „67000 MHP“, aber das bedeutet keineswegs lyrisches Spiel. Der Bass setzt sich massiv durch. Dazu wirbelt der Schlagzeuger vor allem auf den Becken seines Schlagwerks. Ivo Neame setzt in Wiederkehr an seinem Tastenmöbel kurze Sequenzen. Irgendwie spürt man beim Zuhörer, dass die Musik eine Form von Zerrissenheit ausstrahlt. Sehr gelungen ist nach der Hälfte der Komposition das kurze Schlagwerksolo, ehe dann Bass und Piano wieder bereit sind und dem Schlagzeuger ins Wort fallen. Man stelle sich dabei eine fast leere nächtliche Straße vor, auf der man ob der Stille die Schritte sehr weniger Spätheimkehrer wahrnimmt. Das zumindest lässt sich bildhaft zu den Pianopassagen im Kopf spiegeln.
Anschließend lassen wir mal einen Drachen steigen, wenn „Kite for Seamus“ erklingt. Die zu hörenden Passagen scheinen nicht so getrieben wie bei den zuvor beschriebenen Kompositionen. Die Melodie fließt dahin, und man kann durchaus von lyrischem Spiel sprechen, wenn auch mit starker Akzentuierung gespielt, soweit es das Piano betrifft. Man kann sich gut vorstellen, wie der Drache im Wind hin- und herfliegt, aufsteigt und beinahe zu Boden fällt, auch und gerade wenn Jasper Høiby sich in den Vordergrund spielt.
Beinahe verhalten-getragen beginnt „A Silver Moon“, und man ist verführt, auch an „Der Mond ist aufgegangen“ zu denken. Doch mit diesem bekannten deutschen Volkslied hat die Komposition von Phronesis nichts gemein. Es ist Nacht. Die Stadt ist weitgehend zur Ruhe gekommen. Hier und da wird das Licht hinter den Gardinen an- oder ausgeschaltet. Langsam huschen wenige Menschen über die Straße. Das eine oder andere Taxi bringt Nachtschwärmer nach Hause. So oder so ähnlich könnte man eine Bildreihe oder Filmszene zu der Musik konzipieren, bei der Jasper Høiby wieder eine sehr tragende Rolle spielt, auch wenn das Piano halt tongewaltige Klangwolken in den nächtlichen Himmel malt. Zugegeben, diese Komposition ist sehr gefällig und beinahe schon im Verlauf vorhersehbar, auch dank einer sehr offensichtlichen thematischen Struktur im Gegensatz zu anderen Werken des Trios.
Aufgewühlt ist wohl die beste Beschreibung für „Manioc Maniac“. Man hat den Eindruck, dass es ein gewisses Hin und Her gibt, das sich nach und nach legt, fast legt bzw. sich etwas verlangsamt. Nervosität als Charakteristikum der Komposition ist aber nach wie vor vorhanden. Das gilt insbesondere für das Spiel von Anton Eger und Ivo Neame.
Mit „Rabat“ klingt das Album aus. Beim Lesen des Titels denkt man vielleicht an orientalisch gefärbten Jazz, aber davon ist in dieser Komposition rein gar nichts zu erkennen. Es erscheint eher ähnlich angelegt wie „67000 MHP“. Unruhe, Attacke, Rabatz, fehlender Stillstand, Tanz auf dem Vulkan, Gier nach Leben, Schlaflosigkeit, Suche, Getriebensein – das sind Begriffe, die man mit dem Stück gut und gerne assoziieren kann. Die Frage ist nur: Wie klingt das marokkanische oder maltesische Rabat wirklich? Dennoch: ein Album mit viel Feuer und Energie. Es lohnt sich, sich in die „Musik der Weisheit“ zu vertiefen.
Ach übrigens, der Titel des vorliegenden Albums hat auch eine tiefere Bedeutung und ist der Physik entlehnt: Parallax bedeutet die scheinbare Änderung der Position eines Objekts, wenn der Betrachter seine Position ändert. Und was heißt das für die eingespielte Musik? Dazu mache sich jeder seinen eigenen Reim.
Text: © ferdinand dupuis-panther
Informationen
Label
Edition Records
http://www.editionrecords.com
Musiker
http://editionrecords.com/artists/phronesistrio/
Jasper Høiby
http://www.jasperhoiby.com
Ivo Neame
http://www.ivoneame.co.uk/
Anton Eger
https://en.wikipedia.org/wiki/Anton_Eger
Video
https://vimeo.com/152133758
http://www.phronesismusic.com/gallery.php?gallery=1
Audio
http://www.phronesismusic.com/listen.php