3 x Philippe Lemoine – Matière Première / Desertification / Bows and Arrows

3 x Philippe Lemoine – Matière Première / Desertification / Bows and Arrows

P

self production

Philippe Lemoine ist ein französischer Tenorsaxofonist, der im Contemporary Jazz und Improvised Music zu verorten ist und dabei seine eigene Klangsprache entwickelt. In seiner Biografie lesen wir unter anderem: „… He uses the saxophone as a generator of frequencies, a mechanism made of wood and metal to play with air and water, in a sound universe close to electro-acoustic music. He uses his mastery of the saxophone’s sound and his proactive force to serve the sound of the ensemble.“ Seine aktuelle musikalische Projektarbeit führte und führt zur Zusammenarbeit u. a. mit Simon Rose, Andrea Parkins, Anil Eraslan, Lena Czerniawska, Olivier Lété, Catherine Jauniaux, Michel Doneda, Marie Takahashi, Emmanuel Cremer und Julie Sassoon.

 




Matière Première – Solo


Dreiteilig ist die solistische Performance angelegt.

Teil I: Klappen des Saxofons klappern. Atemluft streicht durch das S-Rohr. Dabei gleicht es dem rotierenden  Besengewische auf der Snare. Fiepen ist zu vernehmen und Kehliges mit Verwischungen. Hochfrequentes dringt ans Ohr des Zuhörers, der auch das nervös erscheinende Klappengeräusch wahrnimmt. Das klingt so, als würde eine Lamelle in Schwingungen gebracht. Dunkeltöniges vereint sich mit zischender Atemluft und einem langgezogenen Ton, der leicht flirrt. Man könnte dabei die Vorstellung von einem verstimmten Schiffshorn haben. Schnalzen und Schmatzen fügt der Saxofonist seiner Improvisation zu. Zugleich scheint er auch in das Mundstück des Saxofons zu sprechen. Tttschttschtsch und Schschschschi vermischen sich mit einem schnellen Auf und Ab des Klangs. Dabei scheint die Adaptation von Industrial Noise durchaus nahe. Fabriksirenen werden mit ihrem Heulen eingefangen. Gutturales entwickelt der Saxofonist obendrein. Ein Brodeln vermischt mit Wortfetzen, die nicht zu dechiffrieren sind, dringt ans Ohr des Hörers. Tschilpen und Fiepen vereinen sich. Hochfrequenzen sind im Raum auszumachen. Und stets ist da auch das Klappengeräusch Teil des Vortrags. Rasselgeräusche werden hinzugefügt. Wrrwrrwrr – so klingt es auch. Geschabe und Klicken sind ebenso wahrzunehmen.

Teil II: Winde, die aufbrausen und verstummen,  nehmen wir auf. Dtüdtüstüatü oder Ähnliches vermischt sich mit verwischtem Atem und einem Schnurren des Saxofons, von dem man denkt, es sei ein Baritonsaxofon. Dabei muss man zudem an klingende Nebelhörner denken, die Teil eines emsigen Schiffsverkehrs sind. Mit viel Fantasie mag man beim Hören auch an die Klänge eines Dschungels denken, an Myriaden von Zikaden und an ein Knistern des Waldes. Ab und an muss man angesichts des Klangs an Becken denken, über die ein Stick geschoben wird. Das ist Tinnitus verdächtig! Nur selten gibt es Momente entspannter Klänge. Melodisches tritt noch seltener in Erscheinung. Wenn doch, dann aber vernimmt man feines Linienspiel und teilweise an orientalische Musik angelehnte Klangmodule.

Teil III: Klopfgeräusche schaffen sich Raum. Winde entwickeln sich, bauen sich auf, rotieren. Aus dem Off vernimmt man anschwellenden Saxofonklang jenseits von Effekten. Überlagert wird dies von Luftströmen, die sich ausbreiten. Zugleich meint man, man lausche einer Heerschar von Insekten und deren Flügelschlägen. Das Geräusch von Schmirgelpapier, das über Holzflächen fährt, wird Teil der Inszenierung, abgesehen von den Sprachschnipseln, die ihren Weg über die Lamelle des Mundstücks, das S-Rohr und den Trichter des Saxofons nehmen. Da gibt es auch ein kehliges RrrrRrrRrr und Fonkfonk oder Artverwandtes. Luft wird angesaugt und eruptiv ausgestoßen. Hier und da werden Tonsilben verschlungen, teilweise sehr temporeich. Dies sind nur einige Eindrücke des Akustischen, die in Worte zu fassen sind. Gewiss ist ein solches musikalisches  Programm eher etwas für einen Improabend mit visuellen Anteilen.

© fdp2023




Desertification


Gemeinsam mit dem im Elsaß ansässigen Cellisten Anil Eraslan hat Philippe Lemoine das Album eingespielt, das sich vom Titel her mit Wüstenbildung beschäftigt. Zwei Teile beinhaltet das Album, zum einen „Flying Tea Leaves (Butterflies Invasion)“ und zum anderen  „Unexpectedly, Time is Over“.

Wie die schnell flatternden Flügel von Gänsen klingt das, was Philippe Lemoine für den Duo-Vortrag anfänglich beiträgt. Zugleich erlebt man aber auch ein hoch gestimmtes Cello, das gleichsam Antipode des Saxofons ist. Melodramatisches erleben wir. Getragenes und Wehmütiges steuert der Cellist zum Gesamtwerk bei. Zugleich drängen sich beim Klang des Cellos Bilder von Niedergang, von Elend, von Krieg auf. Destruktion scheint angesagt, auch wenn der Saxofonist lange Klanglinien verwebt. Sie legen sich teilweise spröde und schroff über die Bogenstriche des Cellisten, der das Dunkle beschwört. Zugleich kann man sich beim Hören vorstellen, dass die Musik einen Stummfilm mit dramatisch inszenierten Szenen begleitet. Von einer Invasion von Schmetterlingen vernimmt man weit und breit nichts, auch wenn der erste Track einen entsprechenden Untertitel trägt. Auch beim Solo des Cellisten drängt sich ein solcher Eindruck nicht auf. Eher meint man, man werde von Anil Eraslan in einen verwunschenen Wald entführt, in dem Geister zuhause sind. Da sieht man Irrlichter funkeln und auch Glühwürmchen, so ein Bild, das sich zur Musik einstellt. Derweil setzt der Saxofonist Philippe Lemoine seine eigenen „musikalischen Fußabdrücke“. Diese signalisieren Unruhe, Rastlosigkeit, Verirrungen, Verwirrungen, Aufruhr. Und darin stimmt dann auch der Cellist mit ein. Der zweite Teil auf dem Album ist von ähnlichen Klangfärbungen wie der erste Teil geprägt, wenn auch der Cellist zu Beginn längere lineare Passagen zum Besten gibt. Diese vereinen sich mit denen, die der Saxofonist kurz mit anspielt, ehe er dann pausiert. So ergibt sich Wellenbewegung mit geringen Amplituden. Überlagern bzw. überlappen sich dabei nicht die beiden Instrumentalisten in ihren Entäußerungen?

© fdp 2023




Bows and Arrows

Für diese Einspielung hat sich der Tenorsaxofonist Lemoine den Klangakrobaten und Sopransaxofonisten Michel Doneda sowie den Bariton- und Altsaxofonisten Simon Rose mit ins Boot geholt. Drei Saxofon-Stimmen flirren, schwirren, röhren, surren, schnurren um die Wette, so könnte man meinen. Eruptives ist auch zu vernehmen. Dieses klingt zugleich wie ein ersticktes Schreien, anfänglich laufend und dann vergehend. Ttttttttt und Zischen dringt an des Hörers Ohr. Röhren schwillt an und bricht ab, nimmt einen erneuten Anlauf und vereint sich in Mehrstimmigkeit. Irgendwie hat man beim Hören auch die Vorstellung, man würde eine Industriefräse belauschen oder ein riesiges Gatter-Sägewerk, das ein wenig geölt werden muss. Schrilles macht sich breit. Wäauwäau ist ein Klang, der erlebbar wird. Auch ein sanftes Flirren wird hörbar und außerdem ein gewaltiger Atemfluss. Getöse und Tosen werden hörbar gemacht. Sirenen-Klänge reizen das Hörzentrum. In Schleifenformen werden Tonsilben des Saxofons verbunden. Das Dreigestirn der Holzbläser setzt im Weiteren zum gemeinsamen Gebläse an. Dabei werden auch Klangwellen mit großen Amplituden erzeugt. Dazu kommen noch Geräusche der Klappen eines Saxofons. Pfeiftöne und ein Brbrbr machen Teil der Improvisationen aus. „Energienahrung“ nennt Philippe Lemoine die gemeinsame Improvisation, die auf dem Album zunächst zu hören ist. Dabei ist auch durchaus Kakophones mit im Spiel. Zwiegespräche werden angefangen. Gegenrede und Vorrede werden konträr gesetzt. Ein Klangfluss zwischen den drei Musikern wird realisiert. Hier und da meint man eine singende Säge wahrzunehmen. Rotoren kreisen, so der zusätzliche Eindruck. Und auch Singschwäne meint man zu hören, wenn die drei Saxofonisten ihre jeweiligen Stimmen erheben. Im zweiten Track des Albums und zugleich der Abschluss der Einspielung heißt es übrigens: „First Stage Seperation“.


Alle drei Alben sind keine leichte Kost, sondern erfordern nachhaltiges Zuhören. Man muss den Faden aufnehmen, den die Musiker spinnen. Verliert man ihn, so verliert man auch den Zugang. Obendrein ist improvisierte Musik, die aufgenommen wird, gewiss schwerer zu begreifen und aufzunehmen als Live-Improvisationen. Geduldig muss man auch sein, sind die jeweiligen Tracks doch auch sehr lang. Atempause gibt es keine. Klangrausch folgt auf Klangrausch – und das muss man als Hörer erst einmal verarbeiten.

© fdp 2023



https://philippelemoine.org
https://philippelemoine.bandcamp.com/album/mati-re-premi-re?pk=595
https://philippelemoine.bandcamp.com/album/bows-and-arrows
https://philippelemoine.bandcamp.com/album/deserteafication


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