Julien Tassin – Primitiv

Julien Tassin – Primitiv

J

Ramble Records

Auf seiner Homepage sieht man den Komponisten und Gitarristen Julien Tassin in der Haltung des „Denkers“ von August Rodin. Worüber denkt er nach? Auf was besinnt er sich? Die jüngste Veröffentlichung gibt die Antwort. Es ist die Herausforderung eines Solo-Projekts. Dabei steht der Künstler alleine im Fokus.

Es gibt kein Ensemble, in das er eintauchen kann, um dann für Momente solistisch zu agieren. Der solistisch Auftretende agiert kontinuierlich, ohne Pause, wie im Falle von Tassin auf dem Saiteninstrument und auch in dem begleitenden „lautmalerischen Singsang“. Worauf kommt es bei einem solchen Auftritt und einer solchen Solo-Veröffentlichung an? Auf Variationen, auf Varianzen, auf das Fehlen von Monochrom. Statt dessen ist Vielfarbigkeit angesagt, dabei durchaus auch auf „fremden Pfaden“ wandelnd. So hat man bei „Movements“ den Eindruck, Tassin tauche hier und da in barocke Gitarrenmusik ein, wandele auf den Spuren von Andrés Segovia und paraphrasiere diese Musik. „Movements“ – das bedeutet Bewegungen, bezeichnet aber auch Teile einer Suite. Doch Letzteres kann nicht gemeint sein, denn es fehlen dazu auf dem Album weitere Sätze einer Suite, oder?  Was wir allerdings erleben ist ein ausgeprägter Lyrizismus, der durchaus  die Schwere von Fado gepaart mit der Leichtigkeit des Coros hat. Als zweite Stimme setzt Tassin tatsächlich seine Stimme ein. Dabei klingt das, was wir hören wie „Stimmproben“ mit den Tonsilben Do-Re-Mi und Fa-So.

Im nachfolgenden Stück „Mosaik“ entführt uns der belgische Gitarrist in ein Bajou von Louisiana, nach Down Town New Orleans, in die Baumwollfelder des us-amerikanischen Südens, der Ort, an dem die prägnanten Works Songs und der Blues ihren Ursprung haben. Und schließlich ist Tassin auch mit Jimi Hendrix unterwegs, mit dem Hendrix, der in Woodstock die us-amerikanische Nationalhymne fragmentierte.  Ein Teil der musikalischen Linien mutet wie ein Fanal an, wie ein Weckruf und zugleich vernimmt man auch bluesige Fragmente. Gegenwärtig scheint der Arbeitsrhythmus, der in den sogenannten Work Songs seinen Niederschlag fand. Wie schon im ersten Stück verzichtet der Gitarrist auf Distortions und Delays. Das Saiteninstrument kommt als reines Saiteninstrument daher, mit und ohne Flageolett, mit und ohne angelehnte Kanon-Struktur. Im Duktus erscheint die Musik dem expressionistischen Pinselschlag eines van Gogh ähnlich. Und sobald Tassin seine Stimme erhebt und das Saitenspiel furios ist, ja dann ist da auch ein bisschen Hendrix mit im Spiel, oder?

Auch bei „Mantra“ meint man in die Tiefen des Blues einzutauchen, des „Country Blues“ und eines Blues, den unter anderem Alexis Corner pflegte. Auch bei diesem Stück setzt Tassin seine Stimme als Teil der Performance ein und legt sie über seine Saiten-Phrasierungen. Danach scheint es einen Bruch zu geben, holt der Gitarrist seine E-Gitarre hervor und lässt sie jaulen und röhren. Zugleich aber zelebriert er auch melodische Linien, die eher an Musik aus Westafrika denken lassen.  Verschnürt werden Bass- und Diskant-Linien. „Curfew“ lautet der Titel, der nahtlos in die Komposition „Troubles“ übergeht. Und dabei muss man dann aufgrund des Duktus und Höreindrucks vielleicht erneut an Jimi Hendrix denken und dessen legendären Woodstock-Auftritt, aber auch an Stücke wie „Purple Haze“ und „Vodoo Child“. Nein, Tassin ist kein Epigone, sondern erforscht den Klangkosmos in seiner eigenen Art. Doch ein Musiker von heute gründet ja seine Musik auf den Schulter vergangener Generationen von Musikern, erfindet also das Rad nicht neu.

Unter den 12 Kompositionen findet sich außerdem „Primitiv“, namensgebend für das aktuelle Album. Zu Beginn des Stücks meint man, Tassin wolle auf seiner Gitarre ein Glockenspiel imitieren. Auf alle Fälle vernehmen wir feinste Kaskadierungen. Und stets stehen die Schönheit des Melodischen und die Melodie im Fokus. Wer sich ein wenig mit Musik aus Mali auskennt, vermeint auch Ähnlichkeiten mit den Melodien zu entdecken, die wir bei Griots erleben, unter anderem von Ali Farka Touré. Aber auch hier bleibt Tassin eigenständig, lässt die Saiten-Klänge sprudeln.

Versucht Tassin uns das Bild einer im Wind flackernden Flamme zu vermitteln, wenn er „Flame“ anstimmt, dabei durchaus in Country Folk abdriftend? Dabei vermeidet es der Musiker, Klischees von Lagerfeuerromantik und vom Wilden Westen zu bedienen. Eher ist er konzertant unterwegs, verwebt Etüdenähnliches mit Songhaftem.  Noise Music oder Minimal Music – diese Gedanken blitzen auf, sobald „Work“ erklingt. Streicht der Musiker dabei mit dem Bogen etwa über die Gitarrensaiten? Ansonsten scheint Cajon Music durchaus sehr nahe, insbesondere von den Rhythmen des Saitenspiels und den farbigen Formen her gesehen. Und auch an J. J. Cale könnte der eine oder andere Zuhörer wohl denken, oder? Bei all den Vergleichen muss eines jedoch angemerkt werden: Tassin folgt seinem eigenen Flow, knüpft seine eigenen Tonsilben bis zum Ende. Mit „Soleils“ schließt das Album, das nicht Smooth Jazz ist, aber ein herausragender Hörgenuss und in den Färbungen einer pastellfarbenen Gouache gleich. Die „gesanglichen“ Passagen, die Tassin in seine Stücke eingebunden hat, sind nicht als Sing-, sondern Instrumentalstimme zu beschreiben und deswegen bewegt sich Tassin auch nicht im Bereich von Singer/Songwriter – und das ist gut so!

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