Jazzrausch Bigband – Emergenz
J
ACT
Jazzrausch und Bigband – wie geht das zusammen, ohne sich in die Tradition der klassischen Bigbands der Jazzgeschichte einzureihen? Ja, es gibt noch etwas anderes als die Ensembles von Duke Ellington oder Benny Goodman, Glenn Miller, Artie Shaw, den Dorsey Brothers. Cab Calloway, Count Basie und Chick Webb. Dass es auch abseits von Mainstream Bigband-Musik gibt, die nicht ins Schema passt, unterstreicht die seit 2014 bestehende Jazzrausch Bigband. Ja, die klassische Bigband ist an eine bestimmte Instrumentierung gebunden: In der Regel besteht eine Big Band aus drei Bläsersections (vier Posaunen, vier Trompeten und fünf Saxophone) und einer Rhythmusgruppe (Schlagzeug, Kontrabass, Klavier, z.T. E-Gitarre). Doch Tuba und Bassposaune wie bei der Jazzrausch Big Band ist eigentlich nicht vorgesehen und auch keine Anlehnung an einen Techno-Rhythmus. Die Rollen vor allem in Big Bands wie WDR- oder NDR-Bigband sind weitgehend vorgegeben, vor allem die Soloeinlagen und der Wechsel zwischen den Bläsereinheiten. Das ist dann in der Regel vorhersehbar. Doch all das ist bei Jazzrausch Nebensache und steht nicht im Fokus. Bei dieser Band geht es vielmehr um gigantische Bläserwucht vom Altsaxofon bis zur Tuba, um Ernsthaftes und Unterhaltsames, um ausgefeilte Soli, um Vokales auch jenseits von lyrischen Zeilen, um starke Rhythmisierungen unabhängig von der Rhythmusgruppe. Denn auch die Bläser sind für starke Rhythmen prädestiniert.
Roman Sladek ist der Bandleader, Organisator, Möglich-Macher und mächtiger Posaunist mit klassischer Ausbildung und Heavy-Metal-Background. Ohne den Komponisten und Elektroniker Leonhard Kuhn wäre das Ensemble obendrein nicht das, was es ist. Und dann ist der volle Klangkörper zu nennen, der aus einer Vielzahl Musikern besteht. Das hat Klangkraft vom ersten bis zum letzten Takt. Übrigens bis auf ein Stück von Shorter hören wir auf dem Album nur Kompositionen von Leonhard Kuhn und anderen Bandmitgliedern. Wer also auf Ellington und andere Granden des Bigband-Jazz fokussiert ist, der wird eine Überraschung erleben – und das ist als Hörgenuss wunderbar und jenseits ausgetretener Pfade, vor allem bezüglich der Grenzüberschreitungen in Richtung House, Funk sowie Soul, Techno und hier und da auch Dancefloor.
Im Waschzettel finden wir über das Ensemble nachstehende Bemerkungen bezogen auf das aktuelle Album: „Vergleicht man „Emergenz“ mit früheren Alben, so fällt vor allem auf, dass die Ausdruckspalette der Band noch differenzierter und raffinierter geworden ist. Klar, auf den Energie-Höhepunkten der Platte steppt auch weiterhin der Techno-Jazz-Bär. Wäre ja auch schlimm, wenn nicht. Aber zwischendrin bricht die four-on-the-floor-Bassdrum immer öfter auf, manche Abschnitte werden fast nur von komplex ineinander verzahnten Bläserstimmen oder lässigen Vokal-Passagen getragen. Man hört Einflüsse aus Minimal Music und federndem Drum ’n’Bass, Fragmente aus Gedichten von Gertrude Stein („Go!Go!Go!“, „Present Tense“) oder der Musik von Wayne Shorter („Orbits“).“
„Go!Go!Go!“ ist gleichsam die Ouvertüre des Albums und eine Art Visitenkarte der Band, die sich in ihrem Facettenreichtum vorstellt, einschließlich des dunkelkehligen Klangs eines Baritonsaxofons. Hören wir da nicht auch ein wenig Motown verschmolzen mit Disco? Distinkt ist die Stimme der Sängerin, die eher ein rhythmisches Rezitieren an den Tag legt. Wie gesagt, das Röhren und sonore Flirren des Saxofons ist farbgebend. Treibende Rhythmen verdanken wir dem Schlagwerker. Ein Klangteppich mit hintergründigem Gebläse reichert zudem das Stück an.
Die Ballade „Five Dice“ erzählt die wahre Geschichte einer Frau, die nach der Trennung von ihrem Partner fünf Würfel als Andenken an ihn behält. So ist es im Pressetext von ACT zum Album zu lesen. Zu Beginn hat man schon den Eindruck eines klassischen Orchesterklangs. Gehauchte Textzeilen dringen ans Ohr des Hörers. Wellige Gebläseklänge, die zu einem Tutti verdichtet werden, kommen hinzu. Auch hier hat man den Eindruck, dass bezüglich der Singstimme durchaus Manhattan Transfer und ähnliche Ensembles mit herauszuhören sind. Mit lang gezogenen sonoren, solistisch präsentierten Saxofonwellen überzeugt das Stück obendrein. Und wer wirft die fünf Würfel?
Mit ein wenig aromatisiertem Funk wartet „As Darkness Fell“ auf. Zugleich hat man den Eindruck, man lausche einer Filmmusikkomposition. Distinkt ist der Trompeter mit seinem Horn unterwegs und hebt sich aus dem Gebläsetutti ab. Das was wir von Seiten des Trompeters hören, klingt melodramatisch und episch. Dabei muss man an Abendstimmungen denken, wie sie in der Malerei der Romantik, besonders von Johan Christian Dahl, auf die Leinwände gebannt wurden. Zugleich aber erzählt, der redundante Rhythmus eher von urbaner Unrast.
Auch einem Stadtteil von Dresden scheint die Band verbunden zu sein: „Plagwitz Calling“ ist ein weiteres Stück auf dem Album. Geht es dabei um ausgelassenes Feiern, um House und Techno nicht nur in den langen Freitagnächten? Beim Zuhören sieht man förmlich die Tanzenden vor sich, die in Ekstase geraten, ihre Köpfe hin- und herwerfen, die Arme rhythmisch in die Luft strecken. Es wird gezappelt und der Pogo getanzt, oder?
Das nervös-aufgekratzte „Ticking Time Bomb“ beschreibt das Gefühl, von den eigenen Gefühlen und Gedanken überwältigt zu werden und von der schieren Fülle der Eindrücke aus sich selbst heraus nahezu zu explodieren., so der Text zum Album. Dominant ist die weibliche Stimme, die mit der weitgehend gesprochenen Lyrik durch das Stück geleitet. Und im Hintergrund vernimmt man stampfende Rhythmen, Dank an die Basstrommel. Über diese legen sich die Bläser, mal kurz- und mal langatmig aufgelegt. Ob der Text auf der Veröffentlichung nachzulesen ist, ist dem Rezensenten nicht bekannt. Doch vernehmbar ist der volle Klang der Tuba. Oder ist es eine Bassposaune, die da erklingt? Nach diesem Intermezzo geht es mit Klangstakkatos und linearem Gebläse weiter. Das letzte Wort hat dann am Schluss die Sängerin.
Ähnlich strukturiert wie der Eröffnungstitel des Albums ist auch „Present Tense“. Wer beim Hören nicht in Bewegung kommt, dem ist nicht zu helfen. Das gilt zumindest für die Passagen, bei denen auch die Bläser uns mit stampfenden Rhythmen überrollen. Basstrommelkaskaden prasseln auf uns ein. Und dann, ja dann werden wir Zeuge eines Saxofonsolos, das mit dichten melodischen Schraffuren aufwartet. Doch die rhythmische Durchwebung lässt nicht lange auf sich warten, dank an die versammelten Bläser, die das Stück auch temporeich beschließen. Alt- oder Sopransaxofon – das ist zu Beginn bei „Have You Heard“ die Frage. Ein Blick auf die Trackliste klärt das: Ein Sopransaxofon ist zu hören. Ansonsten ist das Schlussstück des Albums ein gelungener Song, der wie gesagt auch etwas Souliges an sich hat.
© ferdinand dupuis-panther
Info
http://www.actmusic.com
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www.jazzrauschbigband.de
Line-up
Alto & soprano saxophones: Bettina Maier & Daniel Klingl
Tenor saxophones: Raphael Huber, Frederik Mademann & Moritz Stahl
Baritone sax, bass & contrabass clarinets: Florian Leuschner
Trumpets: Angela Avetisyan, Julius Braun, Julian Hesse & Michael Salvermoser
Trombones: Ramona Schwarzer, Thorben Schütt, Roman Sladek & Matthias Zeindlhofer
Tuba & bass trombone: Jutta Keeß
Electronics: Leonhard Kuhn
Drums: Marco Dufner
Bass & synthesizer: Georg Stirnweiß
Guitar: Heinrich Wulff
Keys: Thomas Kölbl
Vocals: Alma Naidu & Patricia Römer
Tracklisting
01 Go! Go! Go! (Leonhard Kuhn / Gertrude Stein) 2:57
feat. Patricia Römer (voc) & Florian Leuschner (baritone sax)
02 Five Dice (Leonhard Kuhn) 3:16
feat. Patricia Römer (vocals) & Moritz Stahl (tenor sax)
03 As Darkness Fell (L. Kuhn / Angela Avetisyan) 4:20
feat. Angela Avetisyan (vocals) and Julian Hesse (trumpet)
04 Plagwitz Calling (Leonhard Kuhn) 3:28
feat. Roman Sladek (trombone)
05 Autopoiesis (Leonhard Kuhn) 3:05
feat. Angela Avetisyan (trumpet)
06 Emergent Evolution (Leonhard Kuhn) 2:57
feat. Roman Sladek (trombone)
07 Channel 23 (Leonhard Kuhn) 1:09
08 Ticking Time Bomb (L. Kuhn / Patricia Römer) 3:39
feat. Patricia Römer (vocals) & Thorben Schütt (trombone)
09 Rote Kammer (Leonhard Kuhn) 2:52
feat. Moritz Stahl (tenor saxophone)
10 Money Talks (Leonhard Kuhn) 3:12
feat. Patricia Römer (vocals) and Heinrich Wulff (guitar)
11 Untalk (Leonhard Kuhn) 1:10
12 Present Tense (Leonhard Kuhn) 3:03
feat. Alma Naidu (vocals) & Frederik Mademann (tenor sax)
13 Orbits (Wayne Shorter) 3:47
feat. Daniel Klingl (soprano saxophone)
14 Cyperaceæ (Leonhard Kuhn) 1:09
feat. Moritz Stahl (tenor saxophone)
15 Have You Heard (Leonhard Kuhn) 3:12
feat. Alma Naidu (vocals) & Bettina Maier (soprano sax)