Javier Girotto – Winas Tardis
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Fuori Rotta Music
Neben dem Sopransaxofonisten und Quenaflötespieler Javier Girotto, gebürtig aus dem argentinischen Cordoba, aber schon lange in Italien lebend, hören wir den Gitarristen Giulio Tampalini, den Perkussionisten und Marimba- sowie Vibrafonspieler Giuseppe Cacciola und den Drummer Marcello Surace. Alle Kompositionen der Einspielung bis auf Adagio BWV 974 stammen aus der Feder von Javier Girotto.
Aus der indigenen Sprache Quechua stammt der Titel für das Eröffnungsstück des Albums: „Nawpa“. Die Wortbedeutung schließt Begriffe ein wie alt, primitiv, vergangen und Personen, die sich der Vergangenheit verschrieben haben und für traditionelle Werte stehen. Das Stück lebt von dem Klang der akustischen Gitarre, deren Klanglinien nach einer barocken Etüde klingen. Bisweilen erinnert das Spiel an den spanischen Gitarrenvirtuosen Andres Segovia. Samten ist der Klang des Sopransaxofons, das eine Melange mit der Gitarre eingeht. Raumfüllend ist das, was wir hören. Lyrisch und anmutig sind Begriffe, die sich auf das Gehörte anwenden lassen. Man spürt in jeder Klangsequenz den Bezug zur Musik der europäischen Klassik, ohne dass damit ein bestimmtes Subgenre gemeint ist. Mit den lyrischen Linien wird auch im zweiten Stück des Albums fortgefahren, das sich mit der Chronologie der Ereignisse des 20. Jahrhunderts befasst. Mittels Gitarren- und Marimbaklang wird ein musikalisches Fundament geschaffen, über das Javier Girotto seine Saxofonpassagen setzt, dabei im Bild gesprochen klangliche Höhenflüge unternehmend.
Immer wieder erlebt man, dass Jazzmusiker sich auf das Werk von Johann Sebastian Bach beziehen, einige sogar Bach als ersten Ragtime- und Boogie-Spieler ansehen. Letzteres sei nur eine Frage der rhythmischen Setzungen und Betonungen. Nun gut, lassen wir das mal so stehen. Das Quartett von Javier Girotto hat für das aktuelle Album „Adagio BWV 974“ ausgewählt, durchaus mit der Intention von Improvisationserweiterungen. Im Fokus steht wie auch in anderen Stücken der Saxofonist Girotto, dessen Spielansatz durchaus auch an eine klassische Oboe als Instrument denken lässt. Überwältigend ist der Klangschauer, der auf uns niedergeht. Es müssen ja nicht stets Bachsche Fugen sein, die interpretiert werden. Ein Hinhörer ist in diesem Stück die gekonnte Verwebung von Gitarren- und Saxofonlinien. Das beinhaltet Phrasierungen ebenso wie Paraphrasierungen. Übrigens, etwas Sakrales meint man aus der Musik herauszuhören, oder?
Girotto hat in Veröffentlichen immer wieder Bezug auf seine Herkunft genommen und politische Ereignisse musikalisch kommentiert. Das trifft auch auf „Madres de Plaza de Mayo“ zu. Hier versammelten sich über viele Jahre die Mütter der während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 verschwundenen Kinder. Es ist eine Periode, ähnlich wie in anderen Ländern Lateinamerikas, die durch Militärputsche bestimmt war. Bis heute wirkt dies nach, in Argentinien ebenso wie in Chile. Marimbafon und Gitarre gehen in diesem Stück eine stimmliche Verbindung ein, bedienen unterschiedliche Klangfarben, das Helle und das eher Tieftönige. Wie ein Aufschrei mutet obendrein an, was Girotto zum Stück stimmlich beiträgt. Das ist fern eines Klagegesangs, sondern eher einem Appell gleichend. In den klanglichen Wiederholungen kann man durchaus Momente einer ständig zu erzählenden Geschichte sehen. Im Laufe des Stücks werden die Schreie lauter, eindringlicher, die Gerechtigkeit fordern. Das ist zumindest eine mögliche Interpretation dessen, was Girotto vorträgt. Gänzlich anders gelagert ist „Chopiniana“, inspiriert von den Kompositionen Fryderyk Chopins. Neben dem Saxofonisten erleben wir auch den Vibrafonspieler Giuseppe Cacciola. Das Stück scheint dabei zwischen Romantik und Neo-Romantik eingebettet.
Auch zwei namhaften Komponisten, Burt Bacharach und Ennio Morricone, hat Girotto jeweils ein Stück gewidmet.
Bei „Nahuel“ vereinen sich der Klang von Marimba, dumpfer Trommel und Quenaflöte, ohne ins Folkloristische im Sinne von „El condor pasa“ abzudriften. Besungen wird der Jaguar, Nahuel in Mapuche, der indigenen Sprache im Süden Chiles und Argentiniens. Ähnlich wie das Sopransaxofon ist auch in diesem Stück der Flötenklang überwältigend und im Fokus, dabei stets dem Melodiösen verpflichtet. Zum Schluss noch ein Wort zu „Winas Tardis“ (Quechua), in Spanisch Buenas tardes, nicht zu verwechseln mit Buenas noches. Es ist die Begrüßungsformel bis 6 Uhr am späten Nachmittag. Auch in diesem Stück hören wir Girotto an der Quenaflöte. Dabei ist der Duktus durchaus folkloristisch geprägt, derweil die rhythmischen Linien in der Hand des Gitarristen liegen. Nahezu schwelgerisch ist der Klangstrom der Flöte zu bezeichnen. Mit der Musik entführt uns Girotto dann aus Europa in den Süden Lateinamerikas. Voilà, damit schließt sich eine musikalische Reise, die Facetten der europäischen Klassik ebenso wie des Jazz umfasst.
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