Javier Girotto, Jon Balke, Furio Di Castri, Patrice Héral: Unshot Movies
J
Cam Jazz
Das vorliegende Album wurde von Javier Girotto (soprano & baritone sax), Jon Balke (piano / live electronics), Furio Di Castri (bass) sowie Patrice Héral (drums / live electronics) eingespielt. Eröffnet wird der musikalische Reigen mit einer Komposition von Patrice Héral namens “Mam’ Boo”. Héral zeichnet auch für “Javajazz” sowie “C’ est Dengue!!!” verantwortlich. Der Pianist Jon Balke schuf neben “Ghazal” außerdem “Intermezzo”. Der Mann der lyrischen Saxofontöne, Javier Girotto, komponierte unter anderem “Preludio N. 4”. Auch das vierte Bandmitglied, der Bassist Furio Di Castri hinterließ auf dem aktuellen Album seine Handschrift. Von ihm stammen neben “The Dressmaker” und “Things We’ve Lost” auch der Schlusstitel “Thriving On A Reef.
Erzählungen in musikalischen Bildern sind den vier Musikern gelungen, die dabei so tun, als wären diese Erzählungen filmische Geschichten, die zwar als Script existieren, aber nie gedreht und inszeniert wurden, jedenfalls nicht auf Filmmaterial. Stattdessen entfalten die vier Musiker vor uns einen vielfarbigen Bilderbogen und nehmen uns dabei auf eine abenteuerliche Reise mit. Sie öffnen mit ihren Instrumenten für uns unbekannte Welten. Es scheint sogar, dass sie uns nach Java mitnehmen, so jedenfalls suggeriert es vom Titel her „Javajazz“ ganz fernab von Gamelan-Musik, die wir wohl bei der indonesischen Insel Java erwarten könnten. Mysteriös hört sich die Geschichte von Markari an. Wo liegt dies, wo nur? Ist es so mythisch wie Schloss Camelot und Thule? Selbst in ein Riff tauchen wir ab, wenn auch nur musikalisch. Afrika wird nicht mit den sogenannten Big Five und den legendären Tierwanderungen vorgestellt, sondern von seiner eher schrecklichen Seite. Anders ist ein Titel wie „C'est Dengue!!!“ nicht zu begreifen. Man beachte dabei die drei Ausrufezeichen. Hoch aktuell erscheint übrigens „Immigraciôn“. Eine solche Völkerwanderung von ungeheurem Ausmaß erleben wir ja momentan. Afrika lädt sich sprichwörtlich nach Europa ein, denn Afrika ist vergessen, marginalisiert, wurde einst ausgebeutet, kolonial geknechtet und ist nun weitgehend verarmt. Die Armen machen sich nun auf, quer durch den Kontinent, nach Ceuta und übers Mittelmeer gen Malta und Italien. Auch das ist Globalisierung.
Nachhaltig bleibt beim Hören der glasklare Klang des Sopransaxofons im Ohr, meisterlich mit sehr lyrischer Würze von Javier Girotto gespielt. Doch bisweilen steht auch Javier Girotto zurück wie in „Horizontal Song“, der vor allem auch vom Spiel der Rhythmusgruppe lebt.
Doch nun alles auf Anfang. Den macht auf dem Album „Mam'Boo“: Sprunghafte Tastenklänge stehen am Anfang, ehe sich Javier Girotto mit Weichzeichner und tonalen Pastellfarben ans Ausgestalten des musikalischen Werks macht. Wer in Bildern denkt, der mag an im Wind liegende Segler vor der Küste von Amalfi denken, der mag auch an einen Strandtag denken oder an Venedig an einem sonnenklaren Wintertag, an dem die Stadt nicht von Touristen überschwemmt wird. Es ist aber nicht Javier Girotto alleine, der das musikalische Gemälde ausschmückt. Man vernimmt das perlende Klavierspiel von Jon Balke, das in einigen Zügen auch durchaus klassisch ausgerichtet ist. Kristalline Klänge nehmen wir bei „Ghazal“ wahr, gepaart mit einem Ansatz von Human Beatbox und behäbigem Basslauf sowie einem melancholisch-klagenden Sopransaxofon. Beim Namen der Komposition und weniger bei der Melodielinie fragt man sich im Übrigen, ob die Namenswahl bewusst auf das arabische Wort für Gazelle fiel.
„Javajazz“ ist überaus beschwingt, teilweise auch liedhaft, wenn nicht gar volksliedhaft. Müsste man sich ein Bild zur Musik vorstellen, so vielleicht die Tänzerinnen von Degas oder ausgelassene Kinder auf einer Riesenwasserrutsche. „Preludio N.4“ beginnt getragen. Man sieht beim Zuhören sogar das Bild von Trauernden vor sich, was gewiss auch am Spiel von Javier Girotto liegt, das hier und da auch an Fado erinnert. Man kann sich beim Zuhören sogar einen Trauerzug vorstellen, der sich im herbstlichen Nebel über den Friedhof bewegt. Ist es verwegen von chopinschen Anmutungen zu reden, wenn man das Präludium im Weiteren verfolgt?
Afrika scheint sehr gegenwärtig, wenn man „C'est Dengue!!!“ hört. Man wüsste allerdings gerne, wer für den mehrstimmigen Gesang zeichnet, der so gar nicht europäisch ausgelegt ist. Auch die Pianopassagen lassen weniger an amerikanischen Pianojazz denken, sondern vielmehr an Abdullah Ibrahims „African Marketplace“. Trotz des sehr ernsthaften Titels, der doch auf eine virale Infektion verweist, ist die Anlage der Komposition auf Kurzweil ausgerichtet. Starke Rhythmen eröffnen den „Horizontal Song“. Dazu gehört auch der energetische Duktus des Pianisten. Zarte Klangwolken des Sopransaxofons schweben gleichsam über dem rhythmischen Fundament. Der Rezensent musste, aus welchem Grund auch immer, beim Zuhören auch an den Gesang der sephardischen Juden Andalusiens denken. Zum Schluss tauchen wir in die bunte Welt des Korallenriffs ein: Ist da nicht ein Baritonsaxofon zu hören? Ja, der Tieftöner führt uns zu den Papageienfischen, den Gehirn- und Hirschgeweihkorallen, zu den Diskusfischen und Riffhaien. Unterstützt wird das tieftönige Blasrohr von den hart gesetzten Pianoakzenten. So schwimmen wir wie ein Manta durch das Klanggewässer, das die vier Musiker für uns geschaffen haben. Insgesamt präsentieren uns Girotto und Konsorten ein wohltemperiertes Bad in einem azurblauen Klangmeer, nicht nur mit dem letzten Stück des Albums!
Text © ferdinand dupuis-panther
Press Release by Cam Jazz
An unshot movie is a story that, being uncompleted, still exists in the imagination of the one who would have liked to complete it: it is nourished by a sort of nostalgia for something that has never happened, by the wish to tell a story and is also rich in thousands of still possible, and reasonable, versions. Jazz may express all these feelings given its nature of music “in the making” that unfolds from a concept and mutates into something different. Unshot Movies isn’t a soundtrack, but recounts twelve unshot movies through music. The narrators here are four remarkable musicians: Javier Girotto, Jon Balke, Furio Di Castri and Patrice Héral, who rely on their own energetic creativity, exciting melodic themes, sophisticated arrangements and innate, natural cohesiveness, and manage to give each track its own distinctive moods, colors and features with great expressive power. This is all accomplished by depicting events occurring in a not quite distinct imagination. While the soprano sax in Ghazal writes melodies suggesting joy, yearning and even drama, the completely unfettered drums and unison playing of sax and piano make Javajazz playful and lively. While Things We’ve Lost has nearly a chanson-like framework, C’est Dengue!!! is captivating, forceful, sensational. While Inmigración draws its force from a sudden emotional impact, Historia De Markarí seems to represent a mysterious journey to an unknown planet that both startles and irresistibly attracts us, revealing itself, little by little, to be less threatening, almost friendly.These are unshot movies: if your imagination is excited by such a potent, musically eloquent quartet, you listeners are lucky to still be able to change their plots and finale in the way that most appeals to you. Under the supervision of music producer Ermanno Basso, Unshot Movies was recorded and mixed by Stefano Amerio at Artesuono Recording Studio in Cavalicco (UD), Italy in March 2016, and mastered by Danilo Rossi.
Informationen
Musiker
Javier Girotto
http://www.javiergirotto.com
Furio di Castri
http://www.furiodicastri.com