Javier Girotto – Escenas en Solo

Javier Girotto – Escenas en Solo

J

JG Records

Baritonsaxofon, Sopransaxofon, andische Flöten – das sind die Instrumente, die der aus Argentinien stammende und schon lange in Italien beheimatete Javier Girotto überaus meisterlich einzusetzen weiß, auch und gerade auf dem vorliegenden Soloalbum. Dank moderner Aufnahmesysteme kann man Girotto in einzelnen Aufnahmen als wahren Multiinstrumentalisten erleben. Flamenco, Tango, Tango nuevo und Jazz, das sind die Genres, auf die der Saxofonist zurückgreift um seine besondere Klangmelange zu kreieren und zu kredenzen.

Mit „Bulerango“ eröffnet Girotto den feinen Ohrenschmaus und dieser endet mit „Alfonsina y el mar“. Zwischendrin bindet der Saxofonist ein buntes Klangbouquet. Gleich zu Beginn des Albums sind wir mit der Verschmelzung einer Form des Flamencos und des argentinischen Tangos konfrontiert. „Bulería" ist im Übrigen der charakteristische Flamenco-Stil von Jerez de la Frontera. Dies ist einer der komplexesten Tanz- und Gitarrenstile: geschäftig, festlich und fröhlich. Es zeichnet sich durch einen schnellen Rhythmus und ein verdoppeltes Tempo aus. Und dazu gesellt sich dann der Tango, dieser erotisch aufgeladene Tanz eines Paars.

Lauschen wir dem Saxofonspiel Girottos und dem Wohlklang des Sopransaxofons, so haben wir durchaus den Eindruck man lausche barocken Weisen und sei in einem höfischen Ambiente, in dem zum Tanz aufgespielt wird.  Anlehnungen an das Konzept der Fuge scheint der Saxofonist auch zu verarbeiten. Schließlich ist auch die Frage nach Händel oder Bach erlaubt, oder? „Fluchten des Klangs“ werden zelebriert, temporeich und uns atemlos machend. Nur schwer zu entziffern ist der im Eröffnungsstück verborgene Tango. Mit „Palatium“ (dt. Palast im Mittelalter) setzt Girotto seinen musikalischen Vortrag fort. Herauszuhören ist die Fugen-Anlehnung dieses Stücks. Zweistimmigkeit inszeniert Girotto auf seinem Sopransaxofon. Klangformen ranken sich um einander. Und hören wir nicht als zweite Stimme ein Saxofon mit Altsaxofon-Klang? Doch Girotto spielt ja bekanntermaßen kein Altsaxofon. Sind es also die tiefen Lagen des Sopransaxofons, die wir vernehmen? Perkussives dringt bei „AFA“ ans Ohr des Zuhörers. Werden da Samples von Getrommel auf Bongos oder Tablas eingespielt? Man muss es unterstellen. Und dazu wartet der Saxofonist mit einem flotten Stück auf, das vom Charakter her an die Musik der Karibik denken lässt, sprich an Calypso.

Mit einer Sarabande von Bach konfrontiert der Saxofonist seine Zuhörer auch. Ursprünglich handelt es sich um einen spanischen Tanz mit arabischen Einflüssen, der am Ende des 16. Jahrhunderts als „lasterhaft“ verboten wurde. Von der :Zügellosigkeit der Sarabande“ ist bei Girotto nichts zu merken. Stattdessen genießen wir die Zweistimmigkeit der Darbietung. Dabei überzeugt Girotto vor allem mit dem Spiel in den höchsten Sopranlagen. Lauscht man den Melodielinien, so hat man den Eindruck, hier würde ein Tanz mit genau abgezirkelten Bewegungen zu Gehör gebracht. Vom Duktus her schließt sich „Fragmentango“ direkt an die „Sarabande“ an. Wie zuvor ist die Charakterisierung der musikalischen Inszenierung durch Girotto als konzertant überaus zutreffend.

Die Vielseitigkeit des Musikers Girotto unterstreicht seine Interpretation von „Nature Boy“. Dabei handelt es sich um einen  Popsong von Eden Ahbez, der 1948 veröffentlicht wurde. Der Interpret der Ballade und des heutigen Jazzstandards Nat King Cole landete damit einen Nummer-eins-Hit in den Vereinigten Staaten. Girotto lässt nicht seine Saxofone sprechen, sondern spielt auf einer andinischen Flöte, die ähnlich weichgezeichnet klingt wie die Bansuri oder die Ney. Im weiteren Verlauf verknüpft Girotto den Flötenklang mit Passagen auf dem Sopransaxofon. Weiter geht es mit einem lateinamerikanischen Rundtanz, wenn Girotto zur „Seleccion de Chacareras“ aufspielt. Chacareras sind Teil der argentinischen Folklore, werden aber auch auf dem Altoplano Boliviens gepflegt.

Sehr rhythmisch ausgerichtet ist das Flötenspiel Girottos in dem Stück „El Corralito“. Dazu kommt das eher langwellige Spiel auf den beiden Holzbläsern, Baritonsaxofon und Sopransaxofon. Das Baritonsaxofon übernimmt dabei durchaus die Funktion des Kontrabasses. Derweil entschwebt das Sopransaxofon in einem klanglichen Höhenflug. Bezieht sich Girotto mit dem Titel des Stücks auf Corralito (deutsch: Ställchen; vom argentinischen Spanisch „corralito“, dt  ‚Laufstall‘), die umgangssprachliche Bezeichnung für ein argentinisches System zur Beschränkung des Bargeldumlaufs, das 2001 in der Argentinien-Krise von der Regierung Fernando de la Rúa eingeführt wurde? Angesichts der Tatsache, dass der aus Cordoba (Argentinien) stammende Musiker auch in der Vergangenheit immer wieder auf politische Verhältnisse in seinem Geburtsland eingegangen ist, ist das wohl naheliegend.

Anschließend folgen die „Escenas“, musikalische Inszenierungen, die ein wenig an die Teile einer Suite bzw. einzelne Akte eines Theaterstücks erinnern. Diese musikalischen „Szenen“ stellen vor allem  die Brillanz des Saxofonspiels und der Arrangements Girottos unter Beweis.  Den Abschluss des sehr überzeugenden Soloalbums bildet das Stück „Alfonsina y el mar“, eine Hommage an die argentinische  Dichterin Alfonsina Storni, die im Jahr 1938 Selbstmord beging, in dem sie sich ins Meer stürzte. Als Samba vom argentinischen Pianisten Ariel Ramírez komponiert ist dieses Stück auf dem Album „Mujeres argentinas“ von Mercedes Sodsa erstmals veröffentlicht worden. Girotto zeigt mit seiner Adaptation des Stücks erneut eine tiefe Verbundenheit mit seiner Heimat, die in der Vergangenheit Peronismus, eine Militärdiktatur und wirtschaftlichen Niedergang erlebte. Auf der anderen Seite lebt auch der Tango in diesem zeitweilig gebeutelten Land. Fazit zum Album: Wegen des diversen Klangerlebnisses eine unbedingte Hörempfehlung.

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