Ingrid Hagel - New Beginning
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WinterDream Music
Das aktuelle Album zeigt sowohl die expressiven Seiten der Vokalistin als auch Violinistin Ingrid Hagel, die in der Hauptstadt Estlands Tallinn lebt, nachdem sie einige Zeit auch in Kopenhagen ansässig war. Dort war sie unter anderem, um am dortigen Konservatorium ihre Jazzstudien voranzutreiben. Schon früh war ihr musikalisches Talent entdeckt worden: „Since the age of six, I began playing following the fundaments of the traditional school of classical violin. Even though I enjoyed very much the classical repertoire, my personal need to express myself without boundaries grew rapidly, leading me to the conclusion that I did not want to become only a classical musician.” So äußert sich die Musikerin, die auch an der Musikakademie von Estland ihre Ausbildung als Geigerin erfuhr. Jazz war für Ingrid Hagel zunächst eine Herausforderung als Vokalistin und weniger als Geigerin: „I practiced jazz first as a vocalist. It was peculiarly easy for me to find the pitches I wanted to bind together for the solo lines. I just loved fooling around with phrasing and odd intervals. At a certain point I started sharing the knowlege between these two instruments and this helped me developing myself to the point where I am today. Since I feel more than comfortable with both instruments, I have a clear intention to blend them in my musical identity.“
Für das aktuelle Album hat sie nicht nur den aus Los Angeles stammenden Trompeter und Flügelhornisten Jason Hunter in ihre Band geholt, sondern auch den Saxofonisten Paul Sööt, den Gitarristen Marek Talts, den Bassisten Martin-Eero Kõressaar, den Drummer Eno Kollom sowie als Gast den Flötisten Tomas Trulsson. Bis auf Trulsson leben alle Musiker in Estland.
Die Kompositionen des Albums entstanden in den letzten zwei Jahren. Der Titel und die Titelkomposition „New Beginning“ markieren den Neuanfang Ingrid Hagels, die 18 Jahre lang in Dänemark gelebt hatte und dann nach Estland zurückkehrte. Sie selbst charakterisiert die Komposition wie folgt: „Describing the melody of this track I feel it is like a stream of a river, floating further and further, with the water clearest and purest, not disturbed by anything, heading to discover new things that are waiting down the stream.“
Eröffnet wird das Album mit „Beautiful Thing“, gefolgt von „Dunes“ und „Breathless“. Zu den Kompositionen, die auf dem Album zu finden sind, gehören zudem „Pine Trees“, „Decorum“ und schließlich auch „Wannabe“. Vom ersten Akkord an umfängt den Zuhörer bei „Beautiful Thing“ ein allumfassender Klangrausch, der nicht unwesentlich den Bläsern geschuldet ist. Sobald Ingrid Hagel mit den ersten Zeilen ihres Gesangs beginnt, wird sie von dezentem Schlagwerk und nachhallenden Gitarrenlinien begleitet. Aber auch der Trompeter mit feinen Schraffuren und der Rest des Ensembles kommen zur Geltung, vor allem der Trompeter Jason Hunter und der Gitarrist Marek Talts. Die Lyrik ist nicht derart dominant, dass die Instrumentalisten zur Staffage werden. Dabei verliert sich der Gesang nicht in dünnen Sopranhöhen, wie man es bei gegenwärtig aktiven Vokalistinnen oftmals erleben muss. Die Stimme Hagels hat durchaus auch souliges und bluesiges Timbre. Ein Hinhörer schlechthin ist auch das Gitarrenspiel von Talts, der auf Wimmern, Jaulen und Heulen verzichtet und stattdessen klares Saitenschwingen präsentiert.
Nachfolgend erleben wir die Geigerin Ingrid Hagel; im Jazz ist die Geige unterdessen eher selten zu hören. Die Tage von Didier Lockwood oder Jean-Luc Ponty sind Geschichte. Und an The Flock erinnert sich heute kaum noch jemand. Nun aber ist es an Hagel dem Instrument im Jazz wieder einen Platz zu reservieren. Das geschieht mit „Dunes“, einem sehr melodiös gestalteten Track. Der Geige wohnen zumeist ja eher Kammermusikalisches und Symphonisches inne. Doch bei Ingrid Hagel ist das anders. Sie versteift sich nicht auf das Melodramatische in der Ausformung des Instruments. Gewiss neoromantische Beigaben sind auszumachen, wenn die Dünen besungen werden. Dabei klingen die melodischen Passagen so, als würde in Klangbildern das Wandern der Dünen eingefangen, würde man zusehen, wie der Wind die Ränder der Dünen modelliert, Sandkorn um Sandkorn abgetragen werden. Zur musikalischen Fülle des Stücks trägt auch der Trompeter Jason Hunter ganz wesentlich bei. Er spielt eine sehr weiche Trompete, vielleicht ist er aber auch am Flügelhorn zu hören. Die Gitarrensequenzen zu Beginn von „Breathless“ lassen gelegentlich an Peter Green denken. Vereinen sich nicht im Hintergrund Bläser und Stimme zu einer Einheit, die einen weichen Klangteppich formt? Aus diesem erhebt sich die Geige mit lang anhaltendem Saitenspiel, ehe Jason Hunter seine „klanglichen Arabesken“ zu Gehör bringt. Der Klang verheißt beinahe unbegrenzte Weite, ohne in den sogenannten Fjord-Sound abzudriften. Nicht marktschreierisch, sondern fein gestimmt und samten erleben wir zudem den Saxofonisten und sein Instrument. Ab und an hat man auch den Eindruck, man sei bei einem Konzert einer kleinen Big Band zugegen, oder?
Der Gesang in „One of a kind“ erinnert stellenweise an Rezitationen, wie sie in der Rockmusik unter anderem von Jim Morrison überliefert sind. Hagels Gesang ist in die Tradition von Jazzgesang, aber auch von Chanson und Singer/Songwriter einzuordnen, oder? Dabei ist allerdings die Einbettung in die Instrumentalisten von besonderer Bedeutung. Sie stehen nicht im Abseits, sondern sind genuiner Teil der Klanginszenierung. Der Rezensent musste bei dem Songhaften des Stücks auch an den Gesangsvortrag von Annie Lennox denken. Das will allerdings nicht sagen, dass Hagel Grenzgängerin zwischen Jazz und Pop ist. Ein prägnanter Bass steht am Beginn von „Pine Trees“, gleichsam das Erdverbundene symbolisierend. Anschließend vernehmen wir die mit Hall verstärkte Geige. Dabei sind die von Hagel gespielten Sequenzen durchaus von Elegischem und Neoromantik durchtränkt. Man muss beim Hören auch an Gemälde skandinavischer Symbolisten denken, bei denen der Mensch in einer ihm entfremdeten Landschaft lebt und sehnsüchtig in die Ferne schaut. Irgendwie scheint die Violinistin auch der Musik von Sibelius und Grieg verbunden, von Melancholie und Traurigkeit durchzogen. Nachfolgend eine Anmerkung zu „New Beginning“: Ein wenig Surfsound scheint bei Marek Talts mit im Spiel zu sein, wenn wir den Anfang des Stücks Revue passieren lassen. Dann scheint mit der Violine und deren Passagen auch ein Stück Romantik mit ins Spiel eingebracht zu werden. Teilweise muss man auch an skandinavische Volkslieder denken, wenn man Ingrid Hagels Spiel verfolgt. Sonor meldet sich der Saxofonist Paul Sööt zu Wort, ehe es zu einer sehr melodischen Melange des gesamten Ensembles kommt.
© ferdinand dupuis-panther
Informationen
Die O-Töne von Ingrid Hagel sind ihrer Homepage entnommen worden.
http://www.ingridhagel.com/?page_id=23
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