Heinrich von Kalnein & Kahiba – The Neuroscience of Music
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NATANGO MUSIC
Seit gut 10 Jahren leitet der Hochschullehrer und Saxofonist / Flötist Heinrich von Kalnein das Trio KAHIBA. Neben dem Schweizer Ausnahmedrummer und Live-Elektroniker Gregor Hilbe spielte viele Jahre lang der österreichische Akkordeonvirtuose und Pianist Christian Bakanic in diesem Ensemble. Statt Bakanic ist sein 2016 Anil Bilgen am Piano zu hören. Einen Gastauftritt bei der aktuellen Einspielung hatte als Akkordeonist Christian Bakanic.
Das vorliegende Album ist das vierte des Trios und zugleich das Erste mit Live-Aufnahmen, entstanden aufgrund eines Mitschnitts des Bayerischen Rundfunks vom Juli 2016 im Rahmen des Regensburger „Jazzweekend Festivals“. Ein O-Ton von Heinrich von Kalnein dazu: „Wir musizierten an diesem Abend frei von der Leber weg und hochenergetisch. Ich wusste zwar, dass der BR mitschneidet, machte mir jedoch während des Konzertes im prall gefüllten Innenhof des Thon-Dittmer-Palais keinerlei diesbezügliche Gedanken. Später, beim Abhören der Aufnahmen merkte ich, wie stark das ist, was wir da abgeliefert hatten.“
Neben den Kompositionen „Horizonte“ und „Fellini“, bekannt aus „Global Dialects“ sind außerdem auf dem Album. „Goerg“ und „The Sun“ zu hören, die dem vorletzten Album „THE SIXTH SENSE“ entstammen. Zu den anderen Stücken äußert sich Heinrich von Kalnein wie folgt: „Cien Aguas“ trage ich schon länger mit mir herum. In dieser Version jetzt für KAHIBA ist das Stück für mich endlich stimmig. „De-Escalation“ ist die neueste Komposition. Auch hier wieder zu Beginn ein sehr melodisches Thema. Dann geht die Musik ihre eigenen Wege, und es geht dabei ziemlich zur Sache.“
Nun fragt man sich auch, warum das Album einen eher wenig eingängigen und sehr wissenschaftlich anmutenden Titel trägt. Das geht darauf zurück, dass Heinrich von Kalnein sich mit dem Buch des holländischen Mediziners Pim van Lommel, „Endloses Bewusstsein“ beschäftigt hat. Darin setzt sich van Lommel mit den noch immer nicht vollständig erhellten Zusammenhängen von Musik, Emotionen und musikalischer Kreativität auseinander. In von Kalneins Worten: „Es ist immer noch ein Rätsel, wie unsere Kommunikationsflüsse ohne Worte und Zeichen unbewusst und in Lichtgeschwindigkeit ablaufen. Es gibt bei den Aufnahmen in dieser Julinacht jedenfalls einige magische Augenblicke, deren Entstehen ich zwar nachvollziehen, aber noch nicht einmal selbst erklären kann. Aber möglicherweise bin ich als aktiv handelnder Musiker der Auflösung dieser Rätsel vielleicht ja doch viel näher als jeder wissenschaftliche Ansatz.“
Das Trio eröffnet das Live-Album mit „Horizonte“ (comp. Christian Bakanic , gefolgt von „Goerg“ (comp. Christian Bakanic) und „Fellini“, ehe dann „Cien Aguas“ und „De-Escalation“ zu hören sind. Zum Schluss erstrahlt dann musikalisch „The Sun“! Wenn nicht anders angegeben, entstammen die Tracks der Feder Heinrich von Kalneins.
Um den Zusammenhang zwischen Neurowissenschaften und Musik in der Musik des Trios zu sehen, müsste man sich mit der genannten Publikation befassen. Doch dazu hat der Rezensent keine Zeit, sodass es nahelag, aus dem Hörerlebnis das Album zu besprechen.
Schlagwerkwirbel zu Beginn, fließende Pianolinien, spitze Akkordeonklänge – so beginnt „Horizonte“. Im Weiteren drängt sich das Akkordeon auf, hochtönig, ehe dann das Saxofon ein dichtes Klanggewebe spinnt und damit das Akkordeon einwickelt. Lauscht man den melodischen Konturen, dann meint man, man sehe die Sonne am Horizont langsam aufgehen, als breche ein neuer Tag an, als legten die Stadtbewohner Schlaf und Müdigkeit ab. Auf dem dichten Klangteppich, vom Akkordeon gewirkt, bewegt sich das Saxofon. Kristallen klingen die nachfolgenden Pianopassagen. Es scheint, als rausche ein Gebirgsbach durch eine Felsenschlucht. Und dann drängt sich der satte Klang des Holzbläsers in den Vordergrund, ein wenig zu wortlaut, dominierend, aber durchaus konsequent und beinahe erwartet.
Aufregung, Erregung, Drama – das lassen der Saxofonist Heinrich von Kalnein und der Pianist Anil Bilgen zu Beginn von „Goerg“ aufscheinen. Die melodische Regie, die dann erfolgt, liegt ganz und gar beim Holzbläser, der sich in turbulenten Klangphrasen verewigt. Das klingt teilweise auch ein wenig frech, rotzig und derb. Der Eindruck verstärkt sich, dass im Fokus der solistisch fokussierte Saxofonist der Komposition seinen Stempel aufdrückt. Provozierend, fordernd, schreiend – so gibt sich der Saxofonist über die weiteren Sequenzen des Stücks. Er scheint dabei, einen klangvollen Malstrom entstehen zu lassen, vielleicht aber auch ein Wellentosen mit Gischt. Dahinschwebend zeigt sich der Pianist in seinem Tastenspiel. Er sorgt für Beruhigung, schwächt die Dramatik ab, die dem Stück innewohnt.
„Cien Aguas“ ist ein Stück, mit dem Heinrich von Kalnein lange schwanger ging, ehe es beim Livemitschnitt die Form bekam, die sich von Kalnein immer gewünscht hatte. Von Kalnein eröffnet den Song solistisch und nutzt dabei das gesamte Klangspektrum seines Instruments, dabei fast schon ab und an ins Bariton abschweifend. Nach fließenden Gewässern, wie es der Titel suggeriert, klingt es aber nicht, was da an unsere Ohren dringt. Eher muss man ein unstetes Hin und Her denken, an ein Suchen denken. Melancholische Stimmungen kommen gelegentlich auf, so als stünde ein unerwarteter Abschied bevor. Und dann, ja dann scheint gar ein Tango angestimmt zu werden, oder? Doch auch Anmutungen von Free Jazz finden sich im Verlauf des Tracks.
Zum Schluss noch einige Worte zu „De-Escalation“: Endlich darf sich auch mal der Schlagzeuger am Bühnenrand zeigen, nicht im wörtlichen Sinne, aber … Zudem lebt das Stück auch vom Zwiegespräch zwischen Saxofonist und Akkordeonist. Dabei gibt es m. E. auch durchaus folkloristische Anmutungen wahrzunehmen. Alles scheint im Fluss. Unaufgeregtheit steht im Vordergrund. Denken wir uns beim Zuhören das Durchstreifen einer satten Wiese mit bunten Wiesenblumen, das Queren von steilen Bergalmen, denken wir uns den weiten Blick, die Ferne zum urbanen Dschungel. Diese Melange macht das Stück aus, das auch gelassen-ruhige Passagen kennt, wenn die Basshand des Pianisten die Aufmerksamkeit erhält. Das ist nicht kopflastig und verquer, sondern durchaus nachvollziehbar, zugänglich und stets auch mit der Suche nach dem melodischen Aspekt von Jazz verbunden. Dabei strahlen alle Kompositionen des Albums Frische aus. Altbacken war gestern.
Text: © ferdinand dupuis-panther – Der Text ist nicht public commons.
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