Arild Andersen, Clive Bell, Mark Wastell - Tales Of Hackney
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CONFRONT RECORDINGS
Die Instrumentierung des Trios ist durchaus bemerkenswert, sodass man dazu auch einige Erläuterungen geben muss. Auch wenn wir hier und da meinen ein Bandoneon oder Akkordeon zu vernehmen, so ist das klanglich durchaus entsprechend charakterisiert, aber keiner der Musiker spielt ein derartiges Instrument. Oftmals handelt es sich um eine laotische Maultrommel, die Clive Bell spielt, Arild Andersen ist am Kontrabass zu hören und zudem für elektronische Effekte zuständig. Die sogenannte Shruti-Box und Perkussion liegt in den Händen von Mark Wastell. Clive Bell spielt neben khene, einer Mundorgel, die in Laos sehr verbreitet ist und zu den Durchschlagzungeninstrumenten zählt, zudem noch shakuhachi (jap. Bambuslängsflöte), pi saw (traditionelle thailändische Bambusflöte) und shinobue (jap. Querflöte).
Nach einem Live-Auftritt in einem Londoner Café im September 2017 trafen sich die Musiker am nachfolgenden Tag zu einer zehnstündigen Studio-Session, um ihre Musik einzuspielen. „Tales of Hackney“ deutet auf ein erzählerisches Gesamtkonzept hin. Dabei sind die einzelnen Teile der Geschichte wie Kapitel bzw. Episoden mit römischen Ziffern von I bis IX belegt worden.
Der Musik wohnt etwas Spirituelles und zugleich Meditatives inne. Insbesondere durch die Vielzahl der Holzblasinstrumente, die Clive Bell ins Trio einbringt, ist auch Fernöstliches mit im Spiel. Dabei fungiert Arild Andersen mit seinem Kontrabass als das musikalische Fundament. Zu diesem fügt Mark Wastell sparsam sein Schlagwerk hinzu. Vor allem ist es der Klang von Bambusflöten unterschiedlicher Lagen und Formen sowie laotischer Mundorgel, die für uns ein eher unbekanntes Klangfeld öffnen.
Folgendes entnehmen wir dem sogenannten Waschzettel: „From the original session, they divine a series of hard-to-define scenarios as enchanting and heady as a dusky stroll thru Hackney, reflecting a synaesthetic conflux of phosphorescent light and drifting smells, flowing like its mosaic of multi-purpose dwellings riddled and teeming with life,...“,
Also machen wir uns auf, um den Londoner Stadtteil Hackney musikalisch zu erkunden, einen Stadtteil, der auch die imperiale Geschichte Großbritanniens widerspiegelt. Bereits bei der ersten Episode sind wir einer „Klangverwirrung“ ausgesetzt. Der Klang eines Akkordeons scheint über der bodenständigen Linie des Kontrabasses zu liegen. Ein Akkordeon spielt jedoch keiner der Musiker des Trios. Ist es vielleicht die Shruti-Box, die wir hören? Nein, es ist khene, eine besondere Form der Mundorgel, die in Laos besonders gepflegt wird. Und im Ausklang der ersten „Stadterkundung“ meldet sich dann auch das Schlagwerk.
Auf dem weiteren Weg werden wir vom gestrichenen Bass begleitet. Untergründig vernehmen wir ein Wabern, das neben erdigen Färbungen auch grelle Klangaquarelle kennt. Oder ist das alles über einen Computer geriert, der sich als digitaler Synthesizer tarnt? Gongschläge mischen sich mit einer anhaltenden Klangwalze. Hier und da begegnen wir tiefem Saiten-Schwirren des Kontrabasses. Bleche rauschen bis ins Off. Kurze tieftönige Melodielinien werden mit der khene verwoben. Dabei drängt sich klanglich auch die Vorstellung auf, eine Mundharmonika sei mit im Spiel. Harmonien wie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ brechen kurz auf, ehe dann ein Glucksen und vollmundiger, scharfzüngiger Harmonium-Klang an unsere Ohren dringen. Das Glucksen ist vergleichbar dem nachhallenden Klang von tropfendem Wasser in unterirdischen Kanälen und Reservoirs. Gemurmel breitet sich aus und stetig vernimmt man in einer Art Endlosschleife die khene. Gong und Rahmentrommel scheinen schlussendlich das letzte Wort zu haben.
Jaulen und Beckenklang überlagern sich in der dritten Episode. Metallisch-Schrilles trifft auf Weichgezeichnetes, das wohl einer Bambusflöte geschuldet ist. Wie der sanfte Flügelschlag klingt, was wir hören, allerdings gebrochen durch metallische Klangfetzen. Beinahe aus dem Off dringen Flötenklänge in der vierten Episode an unsere Ohren. Ein zartes Gurren scheint dabei eine Beschreibung, die annähernd Teile des Klangerlebnises wiedergibt. Ein dumpfer Klangteppich liegt unter den exaltieren Flötentönen. Dabei erinnern diese an das Heulen von Koyoten. Beckenschlag und Flötenvibration wechseln sich ab. Exotischem Vogelgezwitscher kommt dem nahe, was Clive Bell zur musikalischen Form beiträgt. Atemluft dringt zischend durch das Blasrohr. Trommelschläge drängen sich auf. Im Weiteren scheint klanglich der Ferne Osten ganz nahe zu sein. Welche Bambusflöte Bell dabei wohl spielt? Weichzeichnungen jedenfalls überwiegen bei dieser Klanggouache. Nur kurz sind die Anmutungen an die Flötenmusik aus den südamerikanischen Anden.
Nachhallendes Saiten-Gezupfe steht am Beginn unserer fünften Hackney-Exkursion. Wie auch bei all den anderen Geschichten und Episoden gibt es keine klanglichen Wiederholungen, scheinen aus den vorhergegangenen Klangbildern keine Versatzstücke überragen zu werden. Im Gegenteil, es scheint neue Klangmuster zu geben, die beispielsweise an eine Ententröte denken lassen, mit denen ein Wildbretjäger Enten anlockt. Viel ausgeprägter ist auch der Schlagswerkeinsatz. Dieser konzentriert sich auf unterschiedliche Becken, die kurz angeschlagen werden und langanhaltend schwirren. Hört man da nicht auch große Gongs? Außerdem: Ein Dumdumdum wird gesetzt. Gestrichen äußert sich der Bass. Alles gemeinsam klingt wie der infernalische Lärm in einer Halle, in der ein Stahl-Abstich erfolgt und Walzstahl ausgerollt wird. Welch Kontrast ist dies zur nächsten Episode, die von feinem Klick-Klick-Klick und Flötengesäusel bestimmt wird. Dabei ist der Flötenklang keineswegs schmeichlerisch, sondern eher schrill, konträr, angesäuert und damit im Gegensatz zu den eher samtenen Basspassagen ausgerichtet.
Zum Schluss noch ein Wort zur Episode IX: Beinahe wie das unablässige Flügelschwirren von Kolibris klingt teilweise das, was wir hören. Klanggemurmel macht sich außerdem breit, so als würde Wasser in einer unterirdischen Höhle dahinrauschen. Ein wenig an traditionelle Musik der Maori muss man denken, wenn man dem Klanglauf der khene folgt. Zugleich hört man zahlreiche Glöckchen und Schellen klingen. Damit haben die Geschichten über Hackney ihren Schlusspunkt gefunden.
Klangliche Varianzen sind es, die die „Tales of Hackney“ so spannend machen. Nein, es sind keine klassischen Improvisationen auf ein Thema bezogen. Wenn überhaupt kann man wohl von freien Improvisationen reden, sprich von Klangfülle aus dem Moment heraus.
Text © ferdinand dupuis-panther – Der Text ist nicht public commons!
Informationen
https://www.confrontrecordings.com/
www.arildandersen.com/
https://www.cafeoto.co.uk/artists/clive-bell/
https://de.wikipedia.org/wiki/Clive_Bell_(Musiker)
https://www.cafeoto.co.uk/artists/mark-wastell/