Rainer Erd, Hochschullehrer für Urheber- und Datenschutzrecht sowie im Vorstand der Freunde und Förderer der hr-Big Band, legt die Biografie eines Saxofonisten vor, der in Budapest geboren wurde und zunächst das Geigespielen erlernte, ehe er das Saxofon für sich entdeckte. Erd hat sich, um die Lebensgeschichte des stets mit einem schwarzen Hütchen auftretenden Saxofonisten zu beleuchten, selbst auf Spurensuche begeben. Er war in der Lova utca im 6. Bezirk, wo Familie Lakatos lebte, und im 8. Bezirk, wo Tony Lakatos die Liebe zum Saxofon und Jazz entdeckte. Zahllos waren die Gespräche, die der Autor mit Tony Lakatos geführt hat. Doch sie fließen in O-Tönen nicht wirklich nachhaltig in die Biografie ein. Im Vorwort werden dazu Gründe angeführt, wenn auch ein wenig verklausuliert. Da ist vom Aufreißen alter Wunden die Rede und vom Schutz des Porträtierten.
Wie nah sich Autor und Porträtierter sind, wird in der Einleitung bei der Schilderung eines Konzerts mit Gershwins „Porgy & Bess“ deutlich. Tatort ist der Große Sendesaal des Hessischen Rundfunks, Ausführende sind die Mitglieder der hr-Big-Band, in der Tony Lakatos statt Michael Brecker spielt. Dieser nach Lakatos Worten weltbeste Saxofonist war schon auf dem Weg zu den Proben mit der Big Band nach Frankfurt, musste aber krankheitsbedingt die Reise abbrechen. Wenige Monate später verstarb Brecker an den Folgen einer Krebserkrankung. Die legendären Brecker Brothers waren somit Jazzgeschichte.
Mit den Jugendjahren von Lakatos, der wohlbehütet aufwuchs und nach dem Wunsch seines Vaters das Geigespielen erlernte, beginnt die eigentliche Biografie. Die Familie Lakatos gehörte zur Minderheit der in Ungarn heimischen Roma, war aber aufgrund der Festanstellung des Vaters als Musiker in einer privilegierten Situation und lebte in einem durchaus angesehenen Stadtbezirk von Budapest. Der Vater von Tony trat regelmäßig mit seiner Kapelle im Restaurant Gundel auf und gab sogenannte Zigeunermusik zum Besten. In der vorliegenden Veröffentlichung wird dieser Begriff in Anführungsstriche gesetzt, gilt er doch als diskriminierend.
Während Tony Lakatos heute mit dem Tenorsaxofon im Vordergrund steht, wenn er spielt, spielte er die Geige im Ensemble des Vaters im Hintergrund stehend. Soli durfte er nicht spielen, da er die Geige zwar beherrschte, aber kein wirklicher Geigenvirtuose war. Bis zum Zweiten Weltkrieg war der 8. Bezirk von Budapest das Künstlerviertel, nachfolgend der Lebensmittelpunkt verarmter und marginalisierter Roma, wie der Autor schreibt. Hier allerdings entdeckte Tony Lakatos seine Liebe zum Saxofon. Rund um den Matthiasplatz war einst der Jazz zuhause, und der zieht den jugendlichen Tony magisch in seinen Bann. Vielfach wurde bei Musikern daheim gejazzt. Atmosphärisch kann man das heute im Jazzcafé IF erleben, so Rainer Erd.
Ob und welche Beziehung Tony Lakatos zur Roma-Musik hat und ob diese seine musikalische Karriere wesentlich geprägt hat, kann man aus den Zeilen von Rainer Erd nur erahnen. Überhaupt scheint Lakatos nicht tief in der Roma-Kultur verwurzelt zu sein. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass er nicht fließend Romani spricht, sondern nur einige Worte kennt. Das scheint aufgrund der Assimilation seiner Herkunftsfamilie auch nicht weiter zu verwundern, oder?
Die erste Banderfahrung 1977, das zweijährige Studium am Konservatorium, der Aufenthalt in Athen zu Beginn der 1980er Jahre und das Eintauchen in die dortige Jazzszene, Konzerterfolge mit der Band Bacillus und die Übersiedlung nach Deutschland werden in der Biografie skizziert. Ohne den in Paderborn lebenden Jazzgitarristen Toto Blanke hätte sich Lakatos wohl nie in Deutschland niedergelassen. Das ostwestfälische Paderborn war nun gewiss keine Hochburg des Jazz, sondern eher ein ultrakonservatises Städtchen, aber hier lebte Blanke, den Lakatos als „zweiten Vater“ ansah. Nächste Station war für den Saxofonisten Lakatos dann München, eher eine Metropole als Paderborn und eine Großstadt mit internationalem Flair.
Dass Lakatos alles spielt, wenn es schöne Musik ist, wird von seinen in der Biografie nicht namentlich erwähnten Kollegen behauptet. So nimmt es nicht Wunder, dass er auch mit der Barrelhouse Jazzband auftritt, fürwahr nicht gerade eine Vertreterin von modernem und Gegenwartsjazz!
Neun Jahre verbrachte Lakatos in München, ließ sich im Szeneviertel Haidhausen nieder und tauchte in den sogenannten Straight-ahead-Jazz ein, dank sei Musikern wie Dusko Goykovich und Charly Antolini. Und diesem „Stil“ des Jazz ist Lakatos bis heute treu geblieben, erweist sich als überaus versiert im sogenannten American Songbook. Hauptsache ist wohl, dass die Musik swingt, oder?
Warum der Autor einen Exkurs in die Geschichte des Jazz in München unternimmt, ist nicht so recht nachvollziehbar, zumal es während des Zuzugs von Lakatos viele Institutionen der 1940er und 1950er Jahre gar nicht mehr gab. „Jenny‘s Place“ war in den 1980er Jahren der Jazztreffpunkt schlechthin. Diesen gibt es heute ebenso wenig wie das Nachtcafé, in dem Lakatos ebenso aufspielte. Doch ein weiterer Jazzclub, nämlich die Unterfahrt, existiert immer noch, wenn auch an einem anderen Ort als im Gründungsjahr 1978. Wichtig für Lakatos war auch das Allotria in der Türkenstraße. Hier begegnete er u.a. den oben genannten Gojkovitch und Antolini, aber auch der Organistin Barbara Dennerlein.
Auch bezüglich der Alben von Lakatos erweist sich der Biograf als sachkundig. „Different Moods“ zum Beispiel, mit Jim Beard, Peter O‘Mara, Joe Locke, Anthony Jackson und Teri Lyne Carrington aufgenommen, ist eines der Alben, auf denen vorwiegend Eigenkompositionen des Saxofonisten zu hören sind. Weitere Albumveröffentlichungen, so Rainer Erd, folgten im Jahresrhythmus. Gerade bezüglich der Musik von Lakatos ist die vom Autor zusammengestellte Linkliste am Ende der Veröffentlichung eine wahre Fundgrube.
Richtig greifbar wird Lakatos für den Leser vor allem durch O-Töne seiner Kollegen oder Liner-Notes wie „Tony Lakatos on ten.sa is a real find. He has his own style which reflects the playing of Coltrane, Rollins and Brecker without resorting to mimicry“. Randy Brecker, Trompeter und Flügelhornist, findet folgende Worte: „Tony is the man with the biggest most soulful Tenor SOUND in Jazz ...“. Und der niederländische Pianist und Organist Jasper van ‘t Hof, mit dem Tony Lakatos nicht nur Alben eingespielt hat, sondern auch regelmäßig Konzertbühnen teilt, meint: „Tony Lakatos – ein ultimativer Lyriker, mit tiefgreifendem Ton. Geht durch die Seele.“
Gerade die Ansichten von Musikern lassen die Musikerpersönlichkeit eines Tony Lakatos „plastisch erlebbar werden. Gewiss, Rainer Erd stellt die Zeit in der HR-Big-Band vor, die 2021 enden wird, und streift die CD-Produktionen beim Hamburger Label Skip Records, aber das hat mit Verlaub eher einen „enzyklopädischen Charakter“.
© fdp
Rainer Erd: Tony Lakatos – Sag nur nicht Künstler zu mir
BoD Norderstedt 2020, ISBN 9783751971287
Reviews von Alben bei Jazz‘halo
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/j/jasper-van-t-hoftony-lakatos-go-with-the-wind/
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/t/tony-lakatos-standard-time/
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