Liegt nicht schon im Ansatz ein großes Missverständnis, wenn die Entstehung von Psychoanalyse und Jazz zeitgleich verortet wird? Doch: 1915 kam der Begriff „Jazz“ erstmals auf, 1896 der Begriff der Psychoanalyse. Noch etwas unterscheidet Jazz und Psychoanalyse: Letztere basiert auf Asymmetrie, Patient und Therapeut begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Jazz ist ohne die Gleichberechtigung der Beteiligten nicht denkbar. Kontrollverlust selbst im Free Jazz und in der freien Improvisation findet nicht oder nur bedingt statt, stattdessen Rabatz und Krawall, aus der Antizipation der Beteiligten entstehend. Grenzen wie in einer Psychose fallen nicht, sondern sind immer im Blick der Beteiligten. Ob es zutrifft, dass bei Jazzmusikern die Grenzen zum Unbewussten gelockert werden und es eine Durchlässigkeit der Signale des Unbewussten gibt, ist eine kühne Formulierung des Herausgebers. Dieser scheint im Übrigen in einem Korsett gefangen und mit Scheuklappen bestückt, wenn er Free Jazz mit dem Begriff anarchisch verknüpft. Nein, auch Free Jazz hat eine Struktur!
Dass der Herausgeber die eigenen Erfahrungen mit Jazz-Musik und -Musikern in seine Einleitung einbindet, ist ja durchaus legitim, aber sind dann Charakterisierungen von Musikern wie der „schwarze Bassist Charles Mingus“ angebracht, derweil solche diskriminierenden Adjektive bei Carla Bley und Gato Barbieri, die er auch erwähnt, fehlen? Was sollen sie eigentlich zum Ausdruck bringen? Was soll eigentlich das Adjektiv „jüdisch-amerikanisch“ über den Klarinettisten Woody Allan aussagen? Auch die Einordnung des Jazz von heute, vor allem des Jazz von Garbarek und Jarrett als neoromantisch und impressionistisch scheint mir gewagt und wenig auf das Thema bezogen. Auch die Aussage, dass es augenblicklich im Jazz keine dominierende Stilrichtung mehr gibt, ist kritisch zu hinterfragen. Übergänge von freier Improvisation zu Neuer Musik beispielsweise sind durchaus ein aktueller Trend, weniger hingegen Straight-ahead-Jazz.
„Jazz und Psychoanalyse formulieren ein Plädoyer für die Offenheit, die Unabgeschlossenheit, die Weitung des Raums, …, die unendlichen Variationen, … die Infragestellung der Grundhaltung ...“, so formuliert es der Herausgeber des Buches am Ende seiner Einleitung. Das ist bezogen auf die klassische Psychoanalyse eher ein Wunschdenken und bezogen auf den Jazz streckenweise überzogen. Wenn zum Beispiel mit Variationen im Jazz Improvisationen gemeint sind, so haben diese in den Beteiligten ihre Grenze, in deren Antizipation, in deren musikalischen Ausdruck, der auch zeitlich Grenzen hat. In diesem Kontext verweise ich auf zwei Interviews, die bei Jazzhalo erschienen sind, einerseits mit dem Posaunisten Matthias Muche und andererseits mit dem Gitarristen Erhard Hirt, in denen das Thema „Variationen und Improvisationen“ angesprochen wird.
Wer behauptet Ragtime und Psychoanalyse seien der Urknall zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dessen Blick muss schon ein Flintenblick sein, aber so liest man es im Kapitel „Kontrollierter Kontrollverlust“. Woody Allan als Kronzeuge für die Verknüpfung von Psychoanalyse und Jazz zu benennen, scheint ebenso abwegig wie die von Jazz und Sex, wie sie im Rückgriff auf Ernest Bornemann vorgenommen wird. Da wird doch tatsächlich behauptet, Jazz bedeute Fuck, Schwupps, so hat man die Brücke zwischen Jazz und Sex fertig gezimmert. Derartige Schnellschüsse, die sich auch im Hinblick auf Adornos „Jazzkritik“ ergeben, kommen nur zustanden, weil es den Autoren an fundamentaler Auseinandersetzung und Quellenstudium mangelt. Da werden munter fragmentierte Passagen zusammengefügt und das ohne Tiefgang. Nur selten kann man Ausführungen zustimmen, so auch: „Die Qualität der Improvisation liegt in der Freiheit des Augenblicks.“ Ja, Jazz ist eine Musik auch im Moment und aus dem Moment, doch das wäre in einer Abhandlung wie der vorliegenden systematisch zu entwickeln, was allerdings unterbleibt.
Als Stilübung ist das Kapitel „Die Geschichte der Psychoanalyse“ anzusehen. Ist der Titel der Veröffentlichung nicht „Kontrollierter Kontrollverlust“? Also dann bitte auch stringent am Thema arbeiten und nicht eine Art Proseminarpapier über Psychoanalyse veröffentlichen, oder? Antje Niebuhrs Versuch, zwischen Improvisation und Assoziation eine Brücke zu bauen, misslingt m. E. im entsprechenden Beitrag. Improvisation begreift die Autorin als Umsetzung der Sehnsucht des Musikers bezüglich der Freiheit im Spiel. Dem setzt sie den analytischen Prozess gleich, der sich der Methoden der freien Assoziation und Einfälle bedient, um das Unbewusste freizulegen. Um Unbewusstes geht es bei Free Impro überhaupt nicht, sondern um „Kettenreaktionen“ bezüglich von Klängen, Akkorden, Rhythmen, die sich im Moment der Interaktion herausbilden. Dabei muss jeder Beteiligte intensiv zuhören und erahnen, was der oder die Mitspieler an Antworten und Fragen formulieren, um den Prozess voranzubringen. Irgendwann gibt es dann keine Fragen und Antworten mehr, sodass die freie Improvisation auch ein Ende findet.
Überzeugend erscheinen hingegen Jörg Scharffs Ausführungen zu „Was macht Improvisation so spannend“. Hannes König kann man nur zustimmen, wenn er ausführt, dass das Freiheitsgefühl virtuos im Jazz umgesetzt wird, dass die Improvisation die ultimative Umsetzung der Sprache der Gefühle in die Musik ist – siehe den Beitrag „Improvisiertes Spiel mit der Abwehr“. Ob allerdings Musik nichts weiter als eine Sublimierung lustbetonter Fantasie ist, soll mal dahingestellt sein. Anerkannt werden muss, dass König sich aus psychoanalytischer Sicht dem Jazz nähert und so auch Fragen wie „Ist Jazz die moderne Sexualität?“ stellt. Das ist legitim, aber ob solche Fragestellungen das Thema wirklich treffen, wage ich zu bezweifeln. Genauso ist die These Königs kritisch zu bewerten, dass die Ekstase im Jazz, das Verlassen der gewohnten Ordnung von Melodie und Harmonie, genuin für dieses Genre ist.
Dass man nur zwei Interviews – mit dem Geiger Ulli Bartel und mit der Pianistin Laia Genc – in den Band aufgenommen hat, ist zu bedauern, denn eigentlich hätte man die sehr kopflastigen Ausführungen m. E. mit weiteren O-Tönen konfrontieren müssen, um die Facetten von Jazz und Improvisation herausarbeiten zu können. Auf alle Fälle lockern die beiden Interviews den „seminaristischen Charakter“ der übrigen Beiträge auf.
Text: © ferdinand dupuis-panther
Konrad Heiland: Kontrollierter Kontrollverlust, Psychosozial-Verlag,
ISBN 9783837925301
Interviews
Matthias Muche:
http://www.jazzhalo.be/interviews/matthias-muche-interview-with-the-trombone-player-from-cologne/
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