In Ulm geboren und nun in München lebend, wurde Michael Riessler in der Vergangenheit in der Presse mit Lorbeeren überhäuft, als er für sein Projekt „Big Circle“ 2012 mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde. Riesslers Musik bewegt sich zwischen Jazz, freier Improvisation und Neuer Musik. An Riesslers Seite ist bei „Big Circle“ u. a. sein langjähriger Partner Pierre Charial an der Drehorgel zu hören. Kritiker schrieben über das Album „Big Circle“, dass es vage Assoziationen an Frank Zappas Kompositionen wecke. Zum Gespräch mit Martin Riessler traf ich mich vor seinem gemeinsamen Konzert mit Pierre Charial in der cuba Black Box (Münster).
Ulm scheint bezüglich Jazz eher Provinz denn Metropole, ist es doch nicht Frankfurt, Berlin oder München. So frage ich mich, obgleich es seit mehr als 50 Jahren eine lebendige Jazzszene in der Festungsstadt gibt, so im Sauschtall, wie Du überhaupt zum Jazz gekommen bist.
MR: Ja, Sauschtall war tatsächlich für mich ein ganz wichtiger Ort. Da war ich noch in der Schulzeit. Freitags gab es immer Jazzkonzerte; Samstag war eher Folk. Es gab wenige, die ich verpasst habe. Ich war regelmäßig da. Ich muss sagen, das Programm damals war unfassbar. Da haben alle gespielt, alle, die Rang und Namen hatten. Von daher empfand ich Ulm niemals als Provinz. Es war wirklich mittendrin, (mit Lachen) zwischen Stuttgart und München.
Es gab nicht eher eine Affinität zur Klassik?
MR: Doch, doch, ich habe eine ganz normale klassische Ausbildung und habe dann in Köln auch Klassik studiert. Es fing gerade in dieser Zeit an, dass man auch Jazz studieren konnte, aber das war ja damals noch nicht so wie jetzt, dass es fast jede Hochschule anbietet. Der Einstieg ging eher über diverse Rockbands in Ulm, mit denen hatte ich eher etwas zu tun, improvisieren und spielen. Das war eher so die Geschichte, immer neben der normalen klassischen Ausbildung.
Kannst Du dich an das erste Jazzalbum erinnern, das nachhaltig bei dir in Erinnerung geblieben ist? Wenn ja, welches Album war es? “Bitches Brew“ von Miles Davis?
MR: Nee, das war alles später. Ob das eine Platte war, weiß ich nicht mehr genau, aber an was ich mich erinnern kann, das war ein geniales Konzert von Michael Urbaniak. Ich glaube, dass ich dort dann auch eine Platte gekauft habe. Kurze Zeit später gab es ein Violine Summit in Baden-Baden mit Jean-Luc Ponty, Don „Sugar Cane“ Harris und Michael Urbaniak, vielleicht war Zbigniew Seifert auch dabei. Das weiß ich nicht mehr. Daran kann ich mich erinnern. Was mich dann auch damals angesprochen hat, war eine ganz neue Platte – ich weiß nicht mehr welche – von Doldingers „Passport“. Das war also so Fusion mäßig, und das hat mich interessiert.
Wie entscheidend waren diese „ersten Konfrontationen“ mit dem Jazz für die weitere musikalische Karriere? Du spielst ja kein Saiteninstrument, sondern Holzbläser.
MR: Das war nie gekoppelt an ein Instrument. Klar, es hat mich interessiert. Ich habe Klarinette gelernt und studiert. Das Saxofon war für mich immer ein Instrument, um möglichst nicht Etüden und möglichst keinen einen klassischen Weg zu gehen, sondern tatsächlich eine Möglichkeit, zu improvisieren und frei von allem anderen, ich sage mal, Ballast zu sein. Saxofonisten damals - in der Tat habe ich den Ornette Coleman zum ersten Mal gehört. Ich war einfach neugierig. Trotz allem, was ich weiter in der Klassik und vor allem in der Neuen Musik verfolgt habe, habe ich fast immer parallel agiert. Ich mache immer weniger Unterschiede zwischen Neuer Musik und Jazz. Was mich immer interessiert hat, von Anfang und hoffentlich jetzt auch, war es, Überraschung zu erleben, etwas Neues zu haben, etwas nicht unbedingt Vorhergesehenes.
War die Wahl der Instrumente zufällig?
MR: In gewisser Weise ja. Ich habe ja Klavier bereits mit Fünf gelernt. Es war klar, auf die Dauer bist du als Pianist irgendwie fast immer alleine. Ich wollte unbedingt im Schulorchester mitspielen. Das gab es in Ulm ein sehr gutes. Ich habe geguckt, mit welchem Instrument ich da schnell reinkomme. Das war in der Tat Klarinette. Es hätte auch Horn sein können oder Trompete. Dann fand ich Klarinette von Anfang an sympathisch, weil ich wusste, Saxofon ist nicht weit weg.
Kann man dabei von einer Affinität oder einer Entsprechung zwischen Persönlichkeitsmuster und Instrument sprechen? Oder ist die Wahl einfach so passiert?
MR: Es ist einfach so passiert. Das war mir damals gar nicht klar, welcher Charakter zu einem Instrument gehört. Ich kann nicht immer total Rückschlüsse ziehen. In der Funktion schon eher. Wenn man zum Beispiel eine Big Band nimmt. Da gibt es schon eher Charaktere, bei denen ich schnell sagen würde, der spielt Lead Trumpet, der ist eher bei der Section..
Sind diese Instrumente aus deiner Sicht der menschlichen Stimme sehr nahe?
MR: Für mich ist das die Bassklarinette. Sie entspricht mehr oder weniger dem Tonumfang der menschlichen Stimme. Deshalb ist es für mich auch das Instrument geworden, das im Grunde genommen mein Instrument ist, und ich sehe es als Verlängerung des Atems bzw. Verlängerung des Körpers. In der Tat hat es einen Tonumfang wie ein Cello. Die Dinge, die man machen kann, singen und spielen, haben den Vorteil, dass man zweistimmig spielen kann. Wenn man höher, also mit der Klarinette oder Es-Klarinette, geht, ist man in einer anderen Gegend.
Hörspiele und die Filmmusik zu „Die andere Heimat“ gehören ebenso zu deinem Gesamtwerk wie nunmehr 20 Alben. Was bedeutet dieser Ausflug in die Genres Hörspiel und Filmmusik im Vergleich zu Projekten wie „Big Circle“ und die Kooperation mit Pierre Charial?
MR: Ich würde das gar nicht als Ausflüge bezeichnen. Für mich war das seit x Jahren immer eine Facette, eine Art der Tätigkeit. Es gibt dort andere Anforderungen. Es gehört auch dazu. Ich muss schreiben, um mir bestimmte Dinge auf einer anderen Ebene klarzumachen. Hier mal wieder zu spielen, ist wirklich ganz einfach, weil ich Lust habe zu spielen. Es ist ja nicht, weil ich denke, ich muss davon leben. Es ist nur (mit Lachen) weil ich absolut Lust habe, mit Freunden zu spielen. Pierre ist ein langjähriger Freund und auch andere wie Jean-Louis Martinier. Letzte Woche war ich mit Robby Ameen zusammen. Das hat eine Art von sozialer Ebene und von Kommunikation, die ich nie vermissen will. Ich möchte auch nicht das Instrument irgendwann weglegen und sagen: „So jetzt schreibe ich nur noch.“ Das ist dieselbe Medaille, nur die andere Seite.
Dadurch, dass Pierre Charial seine Drehorgel mit einem Lochkartensystem betreibt, scheint die Musik des Duos Charial-Riessler festgelegt oder gibt es auch Freistellen für Improvisation? Was bedeutet das für das gemeinsame Spiel? Wie viel Freiraum gibt es?
MR: Es ist klar: Die Abfolge ist vorgegeben. Es sei denn, Pierre setzt den Karton verkehrt herum hinein. Im Normalfall ist die Form absolut gegeben. Allerdings ist es tatsächlich so, dass die Drehorgel von Pierre kein Automat ist. Er muss kurbeln und Register für die Klangfarben ziehen. Mit der Kurbel beeinflusst er vor allem das Tempo. Es ist für mich viel mehr ein Instrument als ein mechanisches Musikinstrument. Die kreative Arbeit für Pierre Charial findet vorher statt. Das heißt, wenn ich ihm Stücke gebe, dann muss er Vieles adaptieren, und er improvisiert dann auch. Er ist eine Art Arrangeur. Sein kreativer Anteil an der Musik ist sehr hoch.
Du spielst gelegentlich auch eine Drehorgel. In welchem Kontext ist das zu sehen, zumal eine der mir gegenwärtigen Hörproben sehr nach traditioneller Drehorgelmusik aus Frankreich klingt, sprich sehr nach Chanson und Folklore?
MR: Ja, ich drehe an der Kurbel. Ich bin kein Drehorgelspieler. Drehorgelspieler heißt für mich, in allererster Linie Lochkarten herstellen zu können. Ja, ich drehe schon an einer kleinen schwarzen Orgel, auch heute Abend.
Ich habe Kommentare in der Presse gelesen, die deine Musik mit der von Frank Zappa vergleichen. Ist das sehr weit hergeholt? Wie ist deine Sichtweise auf diesen Vergleich?
MR: Beim dem Projekt „Big Circle“ hatte ich beim Schreiben nie Zappa im Hinterkopf. Dass es gewisse Assoziationen gibt, liegt daran, dass beim letzten Stück Terry Bozio Schlagzeug spielt, der Ex-Schlagzeuger von Zappa. Es gibt vielleicht auch andere Assoziationen, die man da heraushören kann, weil es eine sehr komplexe und teilweise binäre Art ist, Grooves zu machen. Ach, was ich alles schon gelesen und gehört habe, da mische ich nicht mehr ein. Da denke ich, der Journalist muss ja auch leben. Wenn der irgendwelche Assoziationen hat, dann ist es auch ganz gut. Bewusst schreibe ich nicht mehr in ein Booklet, was alles da ist. Ich mache im Konzert auch keine Ansagen mehr, mit denen ich etwas beschreibe oder sage, es ist so und so konstruiert. Wenn 100 Leute im Publikum sind und ich von vornherein so und so sage , dann hören die am Ende nur darauf. Wenn ich gar nichts sage, habe ich im Idealfall hundert verschiedene Meinungen. Das finde ich gut so.
Beim Hören der Musik des Duos Riessler-Charial hatte ich die starke Assoziation an klassische Orgelmusik, aber auch an die Musik von Messiaen. War ich dabei auf einer falschen Fährte?
MR: Orgel ist ja eh klar. Die Drehorgel ist eine Orgel, nur funktioniert sie anders. Messiaen – ja, völlig falsche Fährte (Lachen). Was heißt völlig falsche Fährte? Wenn man sehr komplexe Akkorde nimmt, wenn man aus der normalen Dur-Moll-Harmonik herausgeht und komplexere harmonische Verläufe wählt, kann man natürlich immer solche Assoziationen haben. Ich bin wirklich kein Messiaener. (Lachen)
Wie wichtig sind im Kontext Deiner Musik moderne klassische Komponisten wie Schönberg und dann auch Stockhausen und Kagel?Spielt das für dein Komponieren eine Rolle.
MR: Das sind jetzt drei Namen. Nehmen wir mal die Zwei, mit denen ich zu tun hatte. Das waren Stockhausen und Kagel. Was mich an Kagel selbstverständlich fasziniert hat, war, wie man alles andere komponieren kann, nicht nur Noten komponieren kann, sondern im Grund genommen ein Szenario und eine Geschichte komponieren kann. Mit Stockhausen war es die unfassbare und geniale Art, auf serielle Weise Musik zu erfinden, die wirklich außerhalb von dem war, was ich bis dahin an Komplexität, an, ich sage mal, musikalische Architektur kannte. Wenn man für die Drehorgel schreibt, muss man kalkulieren, muss man rechnen. Es hat ein bisschen mit Computer zu tun, auch wenn ich immer mit der Hand schreibe.
Drehorgelmusik in Deutschland wird sehr stark mit den Drehorgelspielern assoziiert, die, darunter auch Kriegsversehrte, insbesondere nach dem I. WK und dem II. WK über die Hinterhöfe der Großstädte zogen und dort Gassenhauer, teilweise auch Moritate und Bänkellieder, zum Besten gaben. Wie viel davon findet sich in deiner Musik?
MR: Es war wirklich in den 20er Jahren richtig populär. Es war so das letzte Instrument, bevor man die Schallplatte erfunden hat, die dann jeder zu Hause spielen konnte. Das, was Pierre und wir auch gemeinsam machen, geht ja komplett von dieser Art weg. Es gibt zwar den Sound, und es gibt auch immer Referenzen des vielleicht Populären. Pierre spielt ein völlig anderes Instrument. Es ist wie ein Rolls Royes im Vergleich zu dem, was man damals von der Straße her kannte. Auch die Art, wie er rhythmische Dinge komplex anlegt, ist so, als ob drei Spieler auf einmal spielen würden.
Jazz ist im Kern eine afroamerikanische Musik, wobei auf der ersten Silbe aus meiner Sicht die Betonung liegt. Welche Rolle spielt das für dich und dein Werk?
MR: Es gibt so wahnsinnig viele Definitionen von Jazz. Es gab mal eine interessante Studie von, ich glaube, Ekkehard Jost schon in den 80er Jahren, der alle möglichen Jazzmusiker gefragt hat, und immer kam irgendetwas anderes heraus. Das Einzige, was am Ende übrig blieb und worauf sich alle einigen konnten, war „doing my own thing“. Das ist ja mittlerweile nicht mehr unbedingt so gegeben. Es wird geklont ohne Ende. Manchmal ist der Klon interessanter als das Original. Ich gehöre zu denen, die sagen, das Original ist interessanter als der Klon. Ich würde nicht unterschreiben, dass Jazz ausschließlich afroamerikanische Musik ist. Sicherlich gibt es, wenn man in der Geschichte zurückgeht, Afro-Einflüsse, aber auch aus der Karibik. In dieser globalen Welt bedeutet Jazz für mich viel eher einen Freiraum, Musik zu machen.
Wer bestimmte für das Album „Big Circle“ die musikalische Richtung und Entwicklung? War es Gemeinschaftswerk?
MR: Nein, es ist wirklich auf meinem Mist gewachsen, selbstverständlich anknüpfend an Dinge, die mich interessiert haben, nämlich wie weit man rhythmisch gehen kann, mit diesem Instrument so an eine Grenze zu gehen, physisch an eine Grenze zu gehen, bis der Karton reißt. Wenn es zu komplex wird, geht es nicht mehr schlicht und ergreifend. In diesem Fall war es so, dass ich alle Stücke per Hand geschrieben und dann mit einem Freund komplett in einen Computer gegeben habe. Dieser Computer hat wiederum den von Pierre angetriggert. Dann wurde unsere Computersprache in Pierres Computersprache übersetzt. Die wiederum steuert die Stanzmaschine an. Dann muss Pierre sehen, was geht und was nicht geht.
Ich danke für das Gespräch.
Text und Photos: © ferdinand dupuis-panther - 01/2016
Informationen
Musiker
Michael Riessler
http://www.michael-riessler.de/biography.html
http://www.michael-riessler.de/discography.html
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