Michael Jaeger: von Wurzeln und Grenzen: Interview mit dem Tenorsaxofonisten und Klarinettisten

Das Quartett Michael Jaeger KEROUAC steht – mit eigenständigen und bekannten Exponenten der Schweizer Jazzlandschaft spektakulär besetzt – für kreative und progressive Jazzmusik, für „The Sound Of Surprise“. Das sind die Worte von Peter Rüedi (Die Weltwoche). „Das ist kompromisslose, spannende Musik, zur gleichen Zeit experimentell und klassisch. Jaegers künstlerische Kraft reicht aus, um jeden Musikbegeisterten, der auf der Suche nach neuen Wegen zum modernen Jazz ist, zu inspirieren.“ (Lasse Haugen, Jazznytt, Norwegen).

Zunächst einmal: Welche Beziehungen gibt es zwischen Deiner Band Kerouac und dem US-amerikanischen Schriftsteller mit franko-kanadischen Wurzeln, Jack Kerouac, einem der wichtigsten Vertreter der Beat Generation? Gewiss einige Musiker wie King Crimson oder die australische Band The Go-Betweens schrieben Songs, die sich auf Jack Kerouac beziehen, so „The House Jack Kerouac built“, ein kleiner Hit innerhalb der Independent-Szene. Gleiches gilt für die Münchner Rockband Sportfreunde Stiller , die ihm das Lied „Unterwegs“ widmete.

Gute Frage. Man weiß, dass die Familie des amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac ursprünglich aus Frankreich kommt, von wo sie dann in die USA ausgewandert ist. Kerouac hatte Dizzy Gillespie und Charlie Parker live gehört und sicher auch persönlich getroffen. In seinem spannenden Roman „On the road“, da liest man von Konzerten, bei denen die Beatniks Bebop hörten. Dizzy Gillespie hat später als Hommage an den Schriftsteller ein Stück geschrieben, das „Kerouac“ heißt. Dieses Stück lag in einem Notenheft zufälligerweise offen vor mir, als jemand anrief und fragte: 'Wie heißt Ihr denn?' Das war erstmals alles ziemlich zufällig.

Du hattest also nicht den Hit von The Go-Betweens gehört?

Nein, das muss ich mir noch anhören. Du bist der Erste, der mit weiteren Fährten kommt.

Wie kam der Jazz zu Dir bzw. Du zum Jazz? Ein jazzbegeistertes Elternhaus? Was waren die äußeren Impulse?

Sagen wir mal ich hatte Eltern und Musiklehrer, die bereit waren Impulse wahrzunehmen und mit mir mitzugehen. Meine Eltern hatten zuvor keine Ahnung vom Jazz. Auch mein Klarinettenlehrer war kein Jazzer. Aber er war ein Freigeist! Warum aber hat mich der Jazz als Teenager dermaßen interessiert? Joachim-Ernst Behrendts packendes Buch der Jazzgeschichte hatte ich mit vielleicht dreizehn gelesen. Kurz darauf habe ich dann Dizzy live gehört. So war ich plötzlich mitten drin in der Jazzgeschichte. Wenn Du von Dizzy liest und ihn dann erlebst, das vergisst Du das nicht mehr so schnell…

Oftmals steht am Anfang einer musikalischen Laufbahn die klassische Ausbildung. Wenn das auch für Dich zutrifft, dann ergibt sich die Frage, welches deine ersten musikalischen Schritte waren?

Nein, ich genoss schon vom Kindergarten an eine sehr auf Improvisationen bezogene musikalische Ausbildung. Zwischen Jazz und Technik. Ich hatte es nie so mit Etüden.

Auch nicht auf der Klarinette?

Ganz wenig. Natürlich spielte ich Stamitz und Mozart. Wunderschöne Musik! Aber wir hatten gleichzeitig eine Jazzband, für die ich schon komponieren und konzipieren durfte.

Was schätzt Du an der Klarinette und was am Saxofon?

Am Saxofon schätze ich, dass es so gebaut ist, dass die Musik sich bestenfalls dynamisch aus dem Saxofon entwickelt. Das Instrument hilft beim Musizieren mit. Es ist sehr intelligent gebaut. Die Klarinette ist sehr viel sperriger, schon weil sie nicht in der Oktave, sondern der Duodezime überbläst. Du hast bei der Klarinette keine Oktav-Klappe. Die Töne heißen im oberen Register anders als im unteren, für ein Kind total schwierig zu kapieren. Die Klarinette ist sperrig und vielleicht ist das gerade das Charmante. Sie hat fast etwas Verführerisches. Man muss mit dem Instrument sehr sorgfältig und liebevoll umgehen.

Klarinette in Eurem Kontext ist ein wenig ungewöhnlich, d. h., in der Art wie die Klarinette eingebunden ist. Die Klarinette war ja lange Zeit das Instrument des Swings. Ich nenne dabei nur den Namen Benny Goodman. Dann spielt sie ja auch in der Klezmer-Musik eine gewichtige Rolle. Nun gibt es mit Pepe Auer beispielsweise ganz moderne Spielauffassungen für die Jazzklarinette. Gibt es denn eine Vorliebe für eines der beiden Instrumente, wenn sie so vor dir liegen?

Absolut. Es ist das Tenorsaxofon. Ich bin Tenorsaxofonist und habe vorher zehn Jahre lang Klarinette gespielt, als ganz junger Mensch. Das vergisst man nicht. Aber ich bin in erster Linie Saxofonist, genauer Tenorist.

Du spielst im Trio Jaeger-Gisler-Rainey, aber auch in einem Quartett. Worin bestehen die Gegensätze, worin die Gemeinsamkeiten.

Die Gemeinsamkeiten sind sehr groß: Es existiert bei beiden Formationen ein sehr großes Selbstverständnis im angstfreien Musizieren. Hören, Agieren, Nicht-Agieren. Tom Rainey ist aus New York, es ist aber kein Problem, mit ihm zu spielen. Weil wir die gleiche Sprache sprechen. Ich finde es faszinierend, dass unsere musikalische Sprache des Jazz und der Improvisation überall auf der Welt gesprochen wird! - Zu den Unterschieden kann ich sagen, dass wir mit meinem Quartett meine Kompositionen spielen, die über neun Jahre gewachsen sind. Es war das Kollektiv der vier Musiker, das am kompositorischen formalen Prozess stets mitgearbeitet hat. So spielt Kerouac heute eine komplexe Musik zwischen Komposition und Improvisation. Im Trio mit dem Schlagzeuger Tom Rainey und dem Bassisten Fabian Gisler hingegen spielen wir ganz freie Improvisationen.

Ist die Musik von Euch bei Kerouac weitgehend notiert oder sind nur zehn Takte notiert, und das übrige Stück entwickelt sich im spontanen freien Spiel von Phrasierungen und Improvisationen? Oder hast Du die Struktur im Kopf und die setzt ihr gemeinsam um?

Jedes Stück hat wieder einen anderen Mechanismus dahinter versteckt. Es ist wie bei einem Zauberer. Jeder Zaubertrick soll überraschen. Du weißt nicht, ist es der doppelte Boden im Hut oder ist der Hase lebendig. So ist es auch in der Jazzmusik. Wir haben zum Teil sehr klare Strukturen, sehr komplexe Mehrstimmigkeiten oder unregelmäßige Rhythmen, Unisono-Passagen. Andererseits plötzlich wieder immens viel Freiraum. Wir denken oft in Räumen. Innerhalb dieser Räume bewegen wir uns frei, oder so frei wie möglich.

Wozu dienen dann dem Pianisten und Bassisten, die vor ihn liegenden Notierungen?

Die haben einfach nicht alles auswendig gelernt! (lacht)

Du spielst aber völlig ohne Notierung?

Ja weil ich es auswendig gelernt habe.

Wie dominant ist das Saxofon bzw. die Klarinette bei Kerouac und beim genannten Trio gegenüber der Rhythmusgruppe?

Ich bin der Ideengeber oder Erfinder des Grundkonzepts oder des Songs. Sind wir aber zu viert am Musizieren und läuft der "Mechanismus", ist jedes Zahnrad gleich wichtig. Wobei die Band mehr als ein Mechanismus ist, sie ist eher ein großer Organismus. Meine Erweiterung und Verlängerung als Saxofonist ist das Schlagzeug. Und die Erweiterung des Drums ist zum Beispiel der Kontrabass. Die Grenzen zwischen uns und unseren Instrumenten lösen sich beim Musizieren auf.

Musiker sind Tonkünstler und nicht unbedingt Wortkünstler, dennoch frage ich nach einer kurzen Charakterisierung der Musik des Quartetts.

Nach den Schlüsselwörtern habe ich jahrelang gesucht und bin erst seit Kurzem fündig geworden. Ich nenne die Musik von Kerouac einfach "Collectiv Pulsational Music". Es ist ein Begriff, den ich erfinden musste. Die Pulsation verbindet das freie Spiel mit dem gebundenen Spiel. Die Art der freien Musik, wie wir sie machen, ist weniger europäisch gedacht. Eher kommt sie aus der afroamerikanischen Musiktradition. Es ist das Dialogische, Diskursive, das Durch- und Miteinander was uns interessiert. Die Jazzmusik ist immer noch die freiste Musik der Welt, die sich ständig weiterentwickelt.

Jazz fristet ein Nischendasein, weil jeder denkt, es sei eine hoch intellektuelle Musik.

Natürlich ist der Jazz in einer Nische Zuhause. Die ist aber ebenso intellektuell wie emotional-archaisch.

Würdest Du Dich eher dem afroamerikanischen Jazz verbunden fühlen oder doch einem Jazz in Europa, der seine klassischen Grundfesten nicht verleugnen kann?

Wie gesagt waren Parker und Gillespie für mich die Initialzündung. Zuerst hörte ich viel Dixieland, den Swing. Dann konnte ich den Bebop und noch später den Free Jazz der 60er Jahre hören und verstehen. John Coltrane lief einmal zufällig am Radio mit 'My Favourite Thing'. Ich war total verzaubert … - Irgendwann ist mir dann aufgefallen, dass die großen Musiker, deren Fotos an meiner Wand hingen, ja alle schwarz sind! Ich bin weiß, und trotzdem waren diese Musiker mir alles andere als fremd! Das war die Erkenntnis, dass unsere Jazzmusik eine afroamerikanische Basis hat. Die ganze Polyrhythmik war schon früh bei uns Zuhause ein Thema. Mein Bruder, Chris Jaeger ist Schlagzeuger und jedes Jahr sicherlich einmal in Afrika am Musizieren. Ich hatte das Glück, mit Luca, Vincent und Norbert Musiker zu finden, die sich polyrhythmisch sehr wohl fühlen.

Gibt es auch Jazz aus Europa?

Ich denke schon. Europa hat sich vom amerikanischen Jazz schon lange emanzipiert. Wir haben hier in Europa einen Riesenschatz von musikalischer Nahrung, die den Amerikanern abgeht und die sie wiederum von uns importiert haben. Ich sehe uns nicht als Vasallen von Amerika. Doch geht es für mich nicht ohne diese Seele des Grenzüberschreitenden. Musik macht Räume auf. Auch spirituelle. Und dies ist etwas Universelles in der Musik, das weder europäisch noch amerikanisch ist.

Ich glaube schon, dass es Strömungen in Europa gibt, die kann ich mir schwerlich bei Blue Note vorstellen. Jemand wie David Helbock Random/Control ist europäisch geprägt. Oder die Kerberbrother Alpenfusion, die auch vor Ländler und Jodler nicht zurückschrecken. Dieser Fundus der traditionellen Musik Europas und Jazz ist eben nur in Europa zu finden. Lars Danielsson, Nils Landgren und andere schöpfen aus der schwedischen Folklore für ihre Art des Jazz.

Meinst Du nicht, dass nicht da genau die Gemeinsamkeit besteht?

In Amerika entstand der Jazz vor über hundert Jahren ja auch aus einer Verbindung von europäischen Harmonien mit afrikanischer Rhythmik, von Kunstmusik mit Volksmusik. Ja klar passiert in Europa immer noch Neues. Und klar haben auch wir Europäer unsere musikalischen Ur-Wurzeln.

Könntest Du bitte anhand der Titel „Mondsichel“, „Manitoba“ und „Apfelklappe“ erläutern, wie die Titel zustande kamen und welche Beziehung zwischen Komposition und Titel existiert?

„Mondsichel“ ist eine romantische Ballade. „Manitoba“ ist die kanadische Provinz, wo Vincent Membrez den Song geschrieben hat. Beim Stück „Apfelklappe“ habe ich einige schweizerdeutsche Sätze direkt in Musik umgeschrieben. Die Melodie und Rhythmik meiner Muttersprache wurde hier Musik, am Ende sogar einen Song.

Ich danke für das Gespräch.

Interview und Fotos: ferdinand dupuis-panther

Informationen

Musiker
http://www.michaeljaeger.ch/de/michael-jaeger-kerouac/about
http://lucasisera.com/
http://www.norbertpfammatter.com/de/biography/
http://www.vincentmembrez.ch/index.php?page=news

Audio
http://www.michaeljaeger.ch/de/michael-jaeger-kerouac/musik-hoeren/

http://www.jazzhalo.be/reviews/cd-reviews/m/michael-jaeger-kerouac-dance-around-in-your-bones/

 


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