Kein Geringerer als George Gershwin gab mit seinem Song der bis zumn 6. März 2016 laufenden Ausstellung einen Namen, der im Gedächtnis bleibt. Kunst und Jazz – das ist das Thema dieser überaus ansprechend konzipierten Schau, die die Anfänge des Jazz – der Begriff Jazz tauchte erstmals 1915 in der Chicago Daily Tribune auf – ebenso beleuchtet wie dessen spätere Ausformungen als Free Jazz und dessen Beziehung zu Blues, Swing, Boogie Woogie, Ragtime und schließlich auch Rock 'n Roll.
Jazz als Anklage
In Stuttgart kann man Billie Holiday begegnen, die in „Strange Fruit“ in den späten 1930er Jahren unüberhörbar gegen Rassendiskriminierung und Lynchmorde an Afroamerikanern Stellung bezog. Meilensteinen wie dem Bebop eines Max Roach, Charlie Parker und Miles Davis gehört die Aufmerksamkeit ebenso wie der Tatsache, dass Coleman Hawkins 1948 eine Solo-Improvisation nach Pablo Picasso benannte. 1961 gar entwarf Jackson Pollock, der Tausendsassa des Action Paintings, das Cover für Ornette Colemans Album „Free Jazz“ – künstlerisch wie musikalisch gewiss ein Höhepunkt in der Geschichte des Jazz, dieser ureigenen afro-amerikanischen Musik, die aber auch unter Künstlern in Europa, ob Otto Dix oder Max Beckmann, Anhänger hatte, wie die Ausstellung nachdrücklich offenbart.
Improvisation und Kunstaktion
Dass zwischen Kunstaktion und freier Improvisation gar ein unmittelbarer Kontext existiert, zeigt ein Video von einer Kunstaktion, die Paul Lovens und Günter Christmann im ZMK Karlsruhe gemeinsam mit K. R. H. Sonderborg verantworteten. Gestisch, beinahe manisch ließ Sonderborg dabei seinen Pinsel mit schwarzer Farbe über den am Boden liegenden Malgrund fahren. Sonderborg hatte die Naziherrschaft teilweise in Haft verbracht, gehörte er doch zur Swing-Jugend, liebte also Musik, die als „entartet“ und „Negermusik“ von der „arischen Herrenrasse“ nicht geduldet und verfemt wurde.
Hot Jazz und kein Wort von der Rassendiskriminierung
Als Aufmacher der Schau fungiert ein expressionistisches, teilweise auch in der Farbwahl und im Duktus von Cézanne beeinflusstes Gemälde von Franz Kline namens „Hot Jazz“. Den Vordergrund dominiert eine weiße Sängerin in langem blauen Abendkleid, während die Band der afro-amerikanischen Musiker im Hintergrund agiert. Für mich auch ein Fingerzeig darauf, wie damals Musiker aus dem Süden der USA angesehen wurden. Sie waren „Nigger“, Menschen zweiter Klasse. Sie waren bestenfalls geduldet. Der Ku Klux Klan hatte eine starke Verankerung in der amerikanischen Gesellschaft und sorgte für eine Pogromstimmung im Land. Lynchmorde an „schwarzen Amerikanern“ gingen von den Kapuzenmännern aus, die sich unter dem brennenden Kreuz versammelten. Segregation in den Städten war die Regel. Ausgrenzungen im gewöhnlichen Alltag waren gang und gäbe. Von all dem erzählen weder Kline noch Kirchner in seiner Arbeit „Negertanz“. Vielmehr schürt einer der Mitbegründer der Vereinigung „Die Brücke“ eher das Klischee des „animalischen Schwarzen“, der seinen Trieben freien Lauf lässt und sich zügellosen Tänzen hingibt. Dazu kann man sich an der Hörstation mit Carlisle & Wellmon in die Zeit des Ragtime versetzen lassen.
Die Ikonografie auch anderer Vertreter der klassischen Moderne wie Carl Lohse zeichnet sich durch ein Bild des Afro-Amerikaners aus, wie es dann noch stärker überzeichnet in der Nazi-Propaganda Eingang gefunden hat, die Jazz als Ausgeburt jüdisch-bolschewistischer Verschwörung und entartet denunzierte. Lohse malte einen Jazzsänger mit einem sehr auffallenden Outfit, einem roten Jackett, einem rosa Hemd und einer tannengrünen Krawatte. Auf knallrote Wulstlippen verzichtete Lohse in seinem flüchtig angelegten Porträt nicht, sodass das Porträt Züge einer Karikatur aufweist.
Die Geschichte des Jazz in Bild und Ton
Zu den Klassikern des Jazz gehört „I got rhythm“. Diesen Titel kann man mittels des Medienguides – das ist nur einer von einer Vielzahl von hörbaren Jazztiteln – hören, wenn man Ernie Barnes „Study: History of Jazz“ betrachtet. Barnes? Wer ist das denn? Er gehört zu einer Reihe von afro-amerikanischen Künstlern, die hierzulande nahezu unbekannt sind und im Rahmen der aktuellen Schau endlich ein „Gesicht bekommen“. Sehr plakativ wirkt das Gemälde, dass einen Trompeter vor dem Cotton Club zeigt. Zwei schwarze Katzen haben es sich auf den Eingangsstufen des Clubs gemütlich gemacht. Bildtafeln zieren die Clubfassade und verweisen nicht nur auf Scott Joplin und Charlie Parker, sondern auch auf die besonders geformte Trompete von Dizzy. Ein blaues blutendes Herz steht für den Blues und schwarze Arme, die eine Fessel sprengen, symbolisieren „Freedom“. So scheint diese Arbeit durchaus auch ein wenig Agit Prop zu beinhalten.
Nein, nicht mit expressiven Farben überzeugt der Neoexpressionist Willem de Kooning in der Stuttgarter Schau, sondern durch ein feines Bleistiftporträt des Mitbegründers des Blue-Note-Labels Max Margulis, der obendrein ein linker Aktivist, Schriftsteller, Musiker und Fotograf war. Die „Giganten des Jazz“ hat Albert Oehlen mit flüchtigen Tuschestrich in Schwarz-Weiß porträtiert, so auch Max Roach und Sun Ra, der besonders gerne bunte Kappen trug.
Prinzessin Tamtam
Sehr ausführlich befasst sich die Schau mit der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker. Kara Walker nahm sich der Person Josephine Baker auch an. Diese Künstlerin befasst sich in ihrem Schaffen vor allem mit Gender und Sexualität. So zeigt ihr Scherenschnitt eine Baker im Bananenröckchen. Die Tänzerin saugt an einer ihrer Brüste, während ein kleiner Mann an einer der Bananen des Röckchens lutscht. Wer die sexuelle Konnotation nicht begreift, der muss blind sein.
Die Baker brachte die Männerwelt in Europa in helle Aufregung, als sie sich in Frankreich niederließ und halbnackt auf der Bühne tanzte. Männerfantasien blühten, während die Baker, so in einem Film zu sehen, eher für kurzweilige Komik und ein wenig Burlesque stand. War die Baker selbstbewusst und kein Sexsymbol? Zumindest bediente sie die Klischees von der willigen, von Trieben gesteuerten Afrikanerin, oder? Marlene Dumas zeigt in ihrem Porträt der freizügig agierenden Tänzerin eine eher zerbrechlich wirkende Persönlichkeit. Züchtig im blauen Hosenanzug und inmitten von Matrosen zeigt sich die Baker in einem Porträt, das Raoul Dufy zu verdanken ist. Paul Colin fertigte gar ein Mappenwerk an, das u. a. die Prinzessin Tamtam in unterschiedlichen Tanzposen zeigt. Auch Miguel Covarrubias widmte sich in „Jazz Baby“ der Baker, der er nebst Bubikopffrisur einen fülligen Modglianikörper verpasste.
Wie wenig einige Zeitgenossen, etwas mit der Revue der Baker anzufangen wussten, unterstreicht ein Kommentar von Harry Graf Kessler – zu finden in dem sehr gut gemachten, zweisprachigen (deutsch/englischen) Begleitband zur Schau: „Abends wieder in die Negerrevue bei Nelson (Josephine Baker). Sie sind ein Mittelprodukt zwischen Urwald und Wolkenkratzer; ebenso ihre Musik, der Jazz, in Färbung und Rhythmus. Ultramodern und Ultraprimitiv.“
Jazz von Matisse und ...
Keine Frage auch die Drucke von Scherenschnitten, die Henri Matisse zum Thema „Jazz“ einfielen, sind in der üppig gestalteten Schau zu sehen. Zu den Highlights der Stuttgarter Präsentation gehört m. E. der Karton zum dreiteiligen Werk „Großstadt“ – das Ölgemälde ist im Erdgeschoss in der ständigen Ausstellung zu finden. Dix malte ein Sittengemälde der frühen 1920er Jahre, zeigt eine Gesellschaft, die auf dem Vulkan tanzte, während die Huren und Krüppel als Verlierer des Ersten Weltkriegs außen vor bleiben mussten. Wilhelmische Steifheit war gestern. Nun galt es sich freizügig zu geben und die Moral halt Moral sein zu lassen. Halbnackte Damen sind auf der Tanzfläche zu sehen, gehüllt in durchsichtige Seide. Androgyn wirkt die in Blau gekleidete Dame, die einen Federfächer in der Hand hält und schmachtend einen Blick auf die Tanzenden wirft. Zu diesem Gemälde kann man mittels Medienguide „Shoe Shine Boy“ von Nat Gonella & his Georgians abrufen.
Nicht so sehr den Jazz hatte Georg Grosz im Blick, sondern er verfolgte auch nach seiner Emigration in die USA eher seine bereits in den Berliner Tagen begonnenen Sozialstudien, so auch in dem Aquarell „Negerpaar in Harlem“. Jean Dubuffet hingegen zeigt uns in eher naiver Ansicht seine Idee von einer Jazzband: Punkt-Punkt-Komma-Strich schienen, Pate gestanden zu haben. Während bei zahlreichen Künstlern Jazz in Gemälden und Zeichnungen stets mit „schwarzen Musikern“ verknüpft wurde, wich Otto Dix davon ab. Er zeigt uns stattdessen eine Jazzcombo weißer Musiker in bunten Hawai-Hemden. Nicht zu übersehen in Dix' Komposition ist der aufgeklappte Flügeldeckel in Blau-Schwarz als nahezu bildbeherrschendes Element. Dix war übrigens ein begeisterter Jazztänzer und besaß eine umfängliche Plattensammlung mit Jazzmusik.
Jazz, benutzt und geliebt
Jazz wurde von den Nazis, die diese Musik als jüdisch-entartet ansahen, zu Propagandazwecken gerne genutzt. So setzten sie Charlie & his Orchestra ein, um gegen die britische Kriegsbeteiligung propagandistisch zu Felde zu ziehen. Auch dazu kann man in der Schau ein Hörbeispiel abrufen.
„Begin the Beguine“ so lautet nicht nur ein Song von Cole Porter, sondern auch ein Gemälde von Max Beckmann, in dem sich dessen Vorstellung vom „Weltentheater“ widerspiegelt. Zu diesem Kunstwerk gibt es in einer Aufnahme von Artie Shaw & his Orchestra genau diesen Song, aufgenommen 1938, zu hören. Beckmann hatte 1946 eine ganz eigenwillige Theaterszenerie auf die Leinwand gebannt: hier ein Mann in grüner Toga und mit Federhut sowie blauem Beinkleid ausstaffiert, dort ein einbeiniger Herr in lila Anzug, der eine barbusige Blondine über die Tanzfläche schiebt, zwei Pelikane im Hintergrund, eine Gefesselte und schließlich eine am Boden liegende Krone. Außerdem ist eine Kiste mit der Inschrift „Begin the Begin“ am rechten unteren Bildrand zu sehen. Warum nur diese falsche Schreibweise?
Ich liebe den Jazz so. Besonders wegen der Kuhglocken und der Autohupe. Das ist eine vernünftige Musik. Was konnte man daraus machen. Max Beckmann
Rassismus und Jazz
Nicht nur in Andy Warhols Arbeit „Little Race Riot“ – hier lassen amerikanische Cops ihren Köter einen Farbigen jagen und in den Hintern beißen –, sondern auch in „Strange Fruit“ von Joe Overstreet – einer dieser in Europa eher unbekannte afroamerikanischen Künstler, den die Schau ebenso zeigt wie Romare Bearden, Norman Lewis und Rose Piper. Bei Overstreet ist der Klan aktiv, lodert das Kreuz, um das sich Kapuzenmänner eingefunden haben, nachdem sie einen Afroamerikaner aufgehängt haben – nur angedeutet am linken Bildrand zu sehen. Im gleichnamigen Song von Billie Holiday wird diese Szene gesanglich eingefangen: „Southern trees bear a strange fruit, / Blood on the leaves and blood at the root, / Black bodies swinging in the southern breeze, / Strange fruit hanging from the poplar trees. ...“.
Nein, Jackson Pollocks Originalarbeit fürs Cover von „Free Jazz“ von Ornette Coleman ist nicht zu sehen, dafür aber andere sogenannte Drippings wie „Reflection of the big dipper“. Zu hören gibt es allerdings beinahe 20 Minuten lang „Free Jazz (Part 1)“!!! Die Kunst des Informellen ist unter anderem durch eine Arbeit von K.O. Götz in Stuttgart präsent. Zur gestischen Malerei passt sehr gut Charlie Parkers „Ko Ko“. Götz' Gemälde gleicht einer faltigen Küstenlandschaft mit bizarren Formen. Man meint sogar, beim Betrachten den Wind über die Landschaft wehen zu hören.
Für Dali und Picasso
Unbedingt sollte man einen Stop an der Hörstation einlegen, an der Coleman Hawkins Kompositionen zu hören sind, die er Pablo Picasso und Dali gewidmet hat. In beiden Fällen handelt es sich um kurze Improvisationen. Was konkret-konstruktivistische Kunst mit Jazz gemein hat, erläutert die Schau anhand von Piet Mondrians „Farbflächenmalerei“ namens „Studie für Broadway Boogie Woogie“. Dazu gibt es dann musikalisch „Boogie Woogie Man“ auf die Ohren. Direkten Bezug zu einem Musiker, in diesem Falle Art Blackey, nimmt Jack Whitten in „The Messenger“. Dabei scheint es, als habe der Künstler seinen Blick auf die Milchstraße gerichtet. An Thelonious Monk, einen der ganz wichtigen Vertreter des Bebops, erinnert Blinky Palermo mit einer unbetitelten Arbeit mit diagonal angeordneten Klaviertasten. Damit man einen Eindruck von Monks sehr charakteristischem Klavierspiel erhält, kann man ein bisschen „Straight no chaser“ lauschen.
Unser Blick fällt anschließend auf Christ Martins „Jam Session“: Die Leinwand ist von buntem Glitzer überzogen. Mit schwarzer Farbe wurden breite Striche über die Leinwand gezogen, an deren Ende Porträts von Musiker wie Joe Zawinul (Weather Report) zu sehen sind. Dass auch A. R. Penck nicht nur ein bildender Künstler ist, sondern auch ein Freigeist in Sachen Musik, erfährt man beim Rundgang so nebenbei. Für Jazz begeisterte sich auch der neusachliche Düsseldorfer Maler Konrad Klapheck, dessen Gemälde „After Practising“ ebenfalls in der Schau ausgestellt ist.
Den Übergang zum Rock 'n Roll repräsentieren in der Schau Elvis und Bo Diddley. Warhols doppelter Elvis als Revolverheld hat neben Peter Blakes Porträt von Bo Diddley seinen Platz. Allerdings hat Blake den Musiker mit einer konventionellen E-Gitarre ausgestattet, während Diddley doch sein eigenes Modell einer rechteckigen „Ikea-Gitarre“ bevorzugte.
Wer sich noch weiter in die Welt des Jazz vertiefen möchte, hat dank einer gesonderten Hörstation dazu ausgiebig Gelegenheit. Die Albumliste ist lang und enthält u. a. Miles Davis' „Kind of Blue“ ebenso wie Alexander von Schlippenbachs „Elf Bagatellen“ oder Weather Report mit dem Album „Weather Report“ und Peter Kowalds „Duos: Europa-America-Japan“ nebst John Coltranes „A Love Supreme“, um nur einige Alben hervorzuheben.
Wer diese erstklassig gemachte Schau in Stuttgart verpasst, wird keine weitere Gelegenheit haben „I got rhythm“ zu erleben. Unbedingt empfehlenswert lautet das Urteil des Berichterstatters.
Zum Schluss: Wer die Ausstellung nicht sehen kann, der sollte sich zumindest den im Prestel-Verlag erschienenen Katalog zulegen, der durch eine Reihe von lesenswerten Essays – u. a. „Jonny spielt auf – Der Jazz erobert Deutschland“ von Ulrike Groos – und den Bildteil besonders besticht.
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